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Vom Reichtum des Lebens im Meer

Was sie an Plankton so fasziniert, wie sie zu ihren Daten kommt und weshalb sie gerne in EU-Forschungsprojekten arbeitet. Unterwegs mit Meike Vogt, Klimaforscherin und Meeresökologin an der ETH Zürich.

Am frühen Morgen des 11. Januar 2023 steigt Meike Vogt in Basel in den Zug. Ihr Reiseziel: das europäische Forschungszentrum EMBL in Heidelberg. Dort treffen sich an den folgenden drei Tagen 80 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus ganz Europa zum Kick-off des EU-finanzierten Forschungsprojekts BIOcean5D. Hinter dem kryptischen Akronym steht das ambitionierte Vorhaben, die Biodiversität des Meeres und den menschlichen Einfluss darauf umfassend zu verstehen, zu bewerten und Vorhersagen zu machen. «Jüngste Untersuchungen mariner Ökosysteme haben unsere Unkenntnis über den Reichtum und die Funktionsweise des Meereslebens offenbart, das sich im Anthropozän schneller verändert als das terrestrische Leben», ist auf der Projektwebseite der Europäischen Kommission zu lesen. Dieser Mangel an Wissen haben den Mikrobiomforscher Peer Bork vom EMBL Heidelberg und den Meeresbiologen Colomban de Vargas von der Meeresforschungsstation Roscoff in der Bretagne veranlasst, das Projekt BIOcean5D zu initiieren und bei der Europäischen Kommission einen Finanzierungsantrag einzureichen. Über ihre Netzwerke haben die beiden Wissenschaftler Forschende aus den Bereichen Meeresbiologie, Virologie, Zellbiologie, Zoologie, Ökologie und Ökonometrie aus elf europäischen Ländern zu einer Projektgruppe zusammengebracht, die sich an diesem 11. Januar im Konferenzsaal des EMBL Heidelberg zum ersten Mal trifft. Meike Vogt ist eine der 80 Forscherinnen und Forscher, die zum Kick-off angereist sind. 

Faszination Plankton

Zur Meeresökologie ist Meike Vogt über Umwege gekommen. Eigentlich wollte sie Astronomin werden, studierte Physik und schloss mit einem Master in Quantenfeldtheorie ab. Als es ans Doktorieren ging, entschied sie sich, auf Biogeochemie zu wechseln und Klimamodelliererin zu werden. Sie promovierte an der University of East Anglia in Environmental Sciences und entdeckte dabei die faszinierende Welt des Planktons. «Ich durfte im ersten Jahr meiner Doktorarbeit an einem Feldexperiment in Norwegen teilnehmen. Da habe ich das erste Mal durchs Mikroskop Plankton gesehen und realisiert, dass die mikroskopische Welt genau so schön ist wie die makroskopische, die man durch das Teleskop beobachtet», schildert sie ihren Einstieg in die Welt der Meeresökologie. Seither beschäftigt sich Meike Vogt mit der Erforschung des marinen Planktons und den Ökosystemen der Meere. «Plankton hat viele Aspekte, die mich interessieren. Zum einen sind sie quasi die ältesten Wesen auf unserem Planeten. Einige der Arten, mit denen ich arbeite, sind seit über drei Milliarden Jahren hier und die Natur hatte alle Zeit der Welt, um sie optimal an ihre Umwelt anzupassen. Daraus ist eine enorme Vielfalt mikroskopischer Organismen entstanden. Zum zweiten produziert Plankton rund die Hälfte der Biomasse unseres Planeten. Plankton fixiert ebenso viel Kohlenstoff wie alle Bäume, Sträucher und Gräser der gesamten terrestrischen Biosphäre zusammen. Und drittens interessiert mich als Biogeochemikerin vor allem die Funktion der Planktonorganismen. Planktonsysteme sind an allen natürlichen biogeochemischen Stoffwechselzyklen unseres Planeten beteiligt, vom Kohlenstoff- und Stickstoff- bis zum Schwefel- oder Eisenkreislauf.» 

Mit ihrer Forschungsarbeit sucht Meike Vogt Antworten auf grundlegende Fragen: Wie viele Organismen von welchem Typ gibt es in den Ozeanen und welche Funktionen haben sie? Welche tragen am meisten zu den biogeochemischen Kreisläufen bei? Welche sind relevant für die CO2-Aufnahme der Ozeane? Dabei hat die Forscherin vor allem das Zusammenspiel der vielen unterschiedlichen Organismen in den Planktonnetzwerken und die Funktion wichtiger Planktongruppen in marinen Ökosystemen im Blick. Planktonökosysteme absorbieren CO2 von der Meeresoberfläche auf folgende Weise: Phytoplanktonarten binden den Kohlenstoff über die Fotosynthese. Tierartige Lebewesen nehmen ihn auf, wenn sie Phytoplankton fressen und verwenden ihn beim Aufbau ihrer Körper und in ihren Stoffwechselprozessen. Ihre Ausscheidungen und nach ihrem Tod auch ihre Kadaver sinken in die Tiefe. So entsteht eine Art biologische Pumpe, die Kohlenstoff von der Meeresoberfläche zum Meeresgrund befördert, wo er sich in Sedimenten ablagert. 

Die Suche nach Daten

Neue Ansätze in der Biologie wie das Systemdenken, verbunden mit neuen Messmethoden, Technologien und Verfahren in der Bildgebung und der Metagenomik, haben der Meeresforschung in den letzten Jahrzehnten einen enormen Schub verliehen. Viele der Planktonarten wurden erst kürzlich entdeckt. Ein grosser Teil der genetischen Materie lässt sich noch gar nicht genau beschreiben oder bestimmten Organismen und Funktionen zuordnen. Es entstanden grosse Mengen an Daten, die irgendwo auf der Welt in Meeresstationen, Labors oder in Notizen von Forschenden aufbewahrt wurden.  

Als Meike Vogt vor 18 Jahren mit ihrer Planktonforschung begann, musste sie sich erst einmal um die Datengrundlage kümmern. «Ich bin ursprünglich Klimamodelliererin, die in einem Ozeanmodell Plankton biologisch und funktionell richtig beschreiben will. Aber mir wurde während meiner Doktorarbeit rasch klar, dass dazu die Datenbasis fehlte. Damals habe ich zusammen mit meiner Doktormutter begonnen, global Daten zusammenzutragen, die über die Jahre weltweit erhoben worden waren. Sie bilden die Grundlage, um herauszufinden, welche Planktonorganismen in welcher Konzentration in den Meeren existieren und welche wo mit welchen Arten zusammenleben.» 

«Plankton fixiert ebenso
viel Kohlenstoff wie
die Pflanzen der gesamten
terrestrischen Biosphäre
zusammen.»

Diese Datensammelarbeit hat Meike Vogt auch nach Abschluss ihrer Dissertation weitergeführt und dazu MAREDAT (MARine Ecosystem DATa), ein weltweites Netzwerk von Forschenden und Institutionen, koordiniert. Gemeinsam mit diesem Team hat sie zwischen 2009 und 2013 frühere und aktuelle Daten von 500’000 marinen Messstationen zusammengetragen, systematisiert, aufbereitet und sie 2013 im ersten Atlas für Meeresplankton publiziert. «Das war eine Wahnsinnsarbeit. MAREDAT ist der wissenschaftliche Beitrag, auf den ich am meisten stolz bin», resümiert die Forscherin. 

MAREDAT sollte als Datenbasis dienen, um die Klimamodelle zu verbessern. Es zeigte sich aber rasch, dass sich mit diesen Daten auch die Planktonsysteme sehr viel besser verstehen liessen. Meike Vogt begann, mit Hilfe statistischer Methoden und Machine Learning aus den Daten Muster und Zusammenhänge abzuleiten, die wiederum den Klimamodellierungen zu Gute kommen. Sie nennt dazu ein Beispiel: «Es gibt eine Gruppe von Phytoplankton, die Kalkschalen bilden und dadurch CO2 binden. Nach dem Absterben dieser Organismen sinken die Schalen in die Tiefe. So gelangt das CO2 von der Meeresoberfläche auf den Meeresgrund. Von diesem Phytoplankton existieren etwa 300 Arten. In einem Klimamodell ist es computertechnisch unmöglich, 300 Arten zu berücksichtigen. Wir haben aber herausgefunden, dass sich die 300 Arten in drei Hauptgruppen unterteilen lassen, die in unterschiedlichen Habitaten leben und im Ökosystem unterschiedliche Strategien verfolgen. So können wir der Klimamodellierungs-Community nun empfehlen, diese drei Arten in ihre Modelle aufzunehmen und so die Diversität ausreichend zu repräsentieren.» 

Meike Vogt und ihrem Team war klar, dass mit dem ersten Atlas für Meeresplankton das Sammeln von Daten nicht abgeschlossen ist. Ein EU-Projekt bot neue Möglichkeiten. Sieben Jahre nach der Publikation von MAREDAT startete 2020 das Projekt AtlantECO mit dem Ziel, die Rolle der Mikroorganismen in den Ökosystemen des Atlantiks zu verstehen und Grundlagen für eine nachhaltige Bewirtschaftung des Ozeans zu schaffen. Forschende aus zwölf europäischen Ländern sowie aus Brasilien und Südafrika nehmen daran teil. Meike Vogt ist an diesem Projekt prominent beteiligt. Dank AtlantECO kann sie die Datensammlung MAREDAT aktualisieren und ausbauen. «Bis im Herbst 2022 konnten wir im Rahmen von AtlantECO vierzig Mal so viele Daten sammeln wie zuvor mit MAREDAT und ich hoffe, das geht so weiter.» 

Die Magie des Teamworks

Inzwischen ist es 15 Uhr im Konferenzsaal des EMBL in Heidelberg – Zeit für Meike Vogts Präsentation. Die Forschungsarbeit im Projekt BIOcean5D ist auf sieben thematische Schwerpunkte aufgeteilt. Für jeden ist eine Arbeitsgruppe zuständig. Meike Vogt ist Co-Leiterin des Teams, das Daten über die gesamte Vielfalt des Lebens im Meer zu beschaffen und aufzubereiten hat – von Viren über Planktonorganismen bis zu Walen und dies über zeitliche und räumliche Skalen von der vorindustriellen Zeit bis heute. Diese Fülle von Informationen soll allen Forschenden über einen Data Hub zugänglich sein. In ihrer Präsentation vermittelt Meike Vogt dem Plenum einen Überblick über Ziele, Vorgaben und den Zeitplan ihrer Arbeitsgruppe und den Koordinationsbedarf mit den anderen Teams. Die detaillierte Arbeitsplanung und Abstimmung innerhalb und zwischen den Teams erfolgt dann an den folgenden zwei Tagen des Kick-offs.

Wie komplex das Beschaffen und Aufbereiten der Daten ist, erfahren wir in der Kaffeepause von Meike Vogt und Peer Bork, dem Co-Leiter ihrer Arbeitsgruppe und Gesamtprojektleiter von BIOcean5D. Die Daten liegen je nach Fachgebiet in unterschiedlichsten Formen und Formaten vor. Nun lassen sich digitale Datensätze einer Gensequenzierung aber nicht einfach so mit Aufnahmen akustischer Signale von Meeressäugern verbinden. 

«In einem Klimamodell ist
es computertechnisch unmöglich,
300 Planktonarten zu
repräsentieren.»

Dazu müssen die Daten als Erstes harmonisiert und nach einem einheitlichen Standard digital aufbereitet und geordnet werden. Erst dann lassen sie sich analysieren und sinnvoll miteinander verknüpfen, sodass Zusammenhänge und Muster sichtbar werden. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Arbeit nur ein grosses internationales Team von Forschenden und Fachleuten leisten kann. Dies ist ganz im Sinne Meike Vogts. «Ich bin ein grosser Fan von Open Science. Neues Wissen entsteht heute in einem solchen Tempo, dass es sich einfach nicht mehr lohnt, allein über einem Thema zu brüten. Für mich ist diese Demokratisierung des Zugangs zu Informationen der einzige Weg, um die Masse an neuen Informationen in einer sinnvollen Art und Weise bearbeiten zu können. Deshalb wirke ich auch so gerne mit in kooperativen EU-Projekten wie AtlantECO und BIOcean5D.»

EU-Projekte spielen eine Schlüsselrolle in Meike Vogts wissenschaftlicher Karriere. Sie hat bereits als Doktorandin und Postdoktorandin bei EU-Projekten mitgearbeitet. Zurzeit ist sie an drei Forschungsvorhaben beteiligt, die von der EU finanziert werden, und wirkt bei weiteren mit. Welche Schlussfolgerungen zieht sie aus ihren Erfahrungen mit EU-Projekten? «Sie sind enorm spannend, aber administrativ sehr aufwändig. Allein ein Projektantrag umfasst mehrere hundert Seiten. Ich bin daher froh, dass ich mit EU GrantsAccess einen Partner habe, der mir auch bei kurzen Fristen zuverlässig unter die Arme greift. Allein würde ich diese administrativen Vorgaben nicht schaffen. Aber ich möchte diese Projekte keinesfalls missen. Sie sind für mich ein Treiber neuer Kollaborationen und Begegnungen mit Menschen, die ich sonst nie treffen würde.»

An Ende des Tages frage ich Meike Vogt, was sie sich als Wissenschaftlerin für ihre Zukunft wünscht. Ihre Antwort: «Wenn ich dereinst mit dem Schiff irgendwo auf dem Ozean bin, möchte ich einen Eimer über Bord werfen und mir die Zusammensetzung des Planktons ansehen. Dann möchte ich sagen können: Diese und jene Arten, die ich da sehe, sind zentral für dieses Ökosystem. Wenn sie ihre Funktionen in ihrem Umfeld nicht mehr erfüllen können oder abwandern, zum Beispiel wegen des Klimawandels, wird sich dieses Ökosystem drastisch verändern.»

Plankton

Plankton bezeichnet die Gesamtheit der Organismen, die im Wasser schweben und von der Strömung getrieben werden. Plankton gibt es in allen Lebensformen, von Viren und Bakterien über Pflanzen (Phytoplankton) bis zu Tieren (Zooplankton) und in allen Grössen, von Mikroorganismen bis zu meterlangen Quallen.

Interview mit Meike Vogt
Meike Vogt

Meike Vogt studierte von 1998 bis 2004 an der Ludwig-Maximilians-Universität München Physik und schloss ihr Masterstudium 2004 am Max-Planck-Institut für Physik ab. Danach begann sie ihr Doktoratsstudium in Biogeochemie am Max-Planck-Institut in Jena, das sie 2005 an der University of East Anglia in Norwich fortsetzte und 2008 mit einer Dissertation zu marinen Ökosystemen und Klima abschloss. Nach ihrem Doktorat wechselte Meike Vogt 2008 an die ETH Zürich, wo sie in der Forschungsgruppe für Umweltphysik am Departement Umweltsystemwissenschaften eine Stelle als Postdoktorandin antrat. Seit 2010 ist sie Senior Researcher und beschäftigt sich mit Klimamodellierung und Meeresökologie. Meike Vogt lebt mit ihrem Partner im Aargau und hat eine Tochter.

Horizon-Europe-Projekt

BIOcean5D: Marine Biodiversity Assessment and Prediction Across Spatial, Temporal and Human Scales

  • Projektart: Kollaboratives Projekt mit 26 Partnern
  • Laufzeit: 1. Dezember 2022 – 30. November 2026 (48 Monate)
  • Beitrag für die ETH Zürich: 1’300’706 CHF (SBFI-finanziert)

www.biocean5d.org 

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