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Wo Medizin allein nicht weiterhilft

Was geschieht, wenn ein Kind mit einer Variation der biologischen Geschlechtsmerkmale zur Welt kommt? Und wie sieht die Betreuung dieser Menschen über die Jahre aus? Ein Gespräch mit dem Kinderarzt und Bioethiker Jürg Streuli und seinem Doktoranden Martin Gramc über Intersex und das «European Training Network» INIA.

Herr Streuli, Sie sind spezialisiert auf komplexe medizinische Zustände, unter anderem Intersex. Können Sie diese Begriffe für uns einordnen?

Jürg Streuli: Bei einer komplexen, chronischen Situation wird ein Kind und seine Familie über eine längere Zeit von mehreren Fachpersonen mit verschiedenen, meist schwierig zu gewichtenden Therapieoptionen konfrontiert – und dabei werden die Übergänge zwischen Medizin und sozialen Fragestellungen oft holprig. Für die Familien beginnt dann oft ein Leben in zwei Welten mit unterschiedlichen Sprachen und Themen, der Welt der Medizin und jener des sozialen Umfelds. Gut gemeinte Tipps, falsche Zurückhaltung, Voreingenommenheit bis zu offenem Unverständnis stellen die Familie dann oft vor schwierige Aufgaben, bei denen sie Unterstützung brauchen können. Bei angeborenen Variationen der körperlichen Geschlechtsmerkmale (VdG), umgangssprachlich auch Intergeschlechtlichkeit oder Intersex oder im Medizinjargon DSD für Disorder/Differences of Sex Development genannt, ist das Verhältnis zwischen der medizinischen und sozialen Welt besonders komplex und oft auch problematisch. 

Was geschieht, wenn ein Kind mit einem intersexuellen Merkmal geboren wird?

VdG ist per se keine Krankheit, sondern eine Variation, die bei gewissen Formen tatsächlich lebensbedrohliche Folgen haben kann, bei anderen nicht. Wenn also ein Kind geboren wird, ist es in erster Linie wichtig, lebensbedrohliche Aspekte wie den Salzverlust bei einem adrenogenitalen Syndrom, kurz AGS, möglichst schnell zu erkennen oder auszuschliessen, ohne den Eltern das Gefühl zu geben, dass mit ihrem Kind grundsätzlich etwas nicht stimmt.

Haben alle Personen mit VdG ein AGS?

Nein, AGS kommt bei etwa 1 von 12’000 Geburten vor, VdGs sind aber etwa doppelt so häufig.

Sind VdGs immer sofort erkennbar?

Nein. VdG ist ein Sammelbegriff für ganz viele Besonderheiten in unserer Genetik, unseren Hormonen, unseren Keimdrüsen und der Anatomie unseres äusserlichen Genitals. Und wenn man im Genom nach Besonderheiten sucht, findet man diese bei allen Menschen. VdG sind also nicht per se abnormal, sondern wohl ein fester Teil unserer Evolution. Ob eine Variation auch einen Krankheitswert hat, ist meist gar nicht klar. Da stellt sich dann die Frage, was die Medizin Gutes bewirken kann.

Was ist das Schwierigste an der Arbeit mit Kindern, die mit einer VdG geboren werden?

Kompliziert wird es, wenn das Geschlecht des Kindes nicht klar ist und der Satz «es ist ein Mädchen» oder «es ist ein Junge» bei der Geburt nicht eindeutig ausfällt. Es braucht dann vor allem eines: Professionalität mit Ruhe, Empathie und Raum für das Bonding, also die Förderung einer liebevollen Bindung zwischen Eltern und Kind. Man darf den Eltern von Herzen zur Geburt ihres Kindes gratulieren. Das Personal muss dazu aber entsprechend geschult sein, um nicht selbst schockiert vor dem Genitale des Kindes zu stehen oder gleich zu sagen: «Keine Angst, das kann man operieren.» Tatsächlich kann bei gewissen Formen eine Operation ein Teil des optimalen Weges sein, aber VdG ist nicht etwas, das man «wegoperieren» kann. Es ist ein Prozess durch die Kindheit ins Erwachsenenalter, den die Eltern und das Kind nicht allein gehen müssen. Was es an Unterstützung für diese Familien und ihr Umfeld braucht, ist eine der zentralen Fragen unseres INIA-Forschungsprojektes. 

Sie betreuen zwei Doktorierende im «European Training Network» INIA zu neuen, interdisziplinären Ansätzen bei der Betreuung von Personen mit VdG. Was erwarten Sie von dieser Studie?

Ich bin ein Fan von Action Research – und das ist auch, was wir uns erhoffen: dass nur schon durch die Befragung eines Teams positive Veränderungen im Team selbst angestossen werden. Und auch, dass Fachpersonen merken, dass es Peer Support Groups braucht, und diese wiederum merken, dass sie erwünscht sind. Es ist eine Aufgabe von uns als Gesellschaft, diese Kinder willkommen zu heissen und die Eltern zu befähigen, ihren Weg zu finden. Ein grosses Thema, zu dem wir mehrere Forschungsprojekte haben, ist hier die partizipative Entscheidungsfindung, das sogenannte Shared-Decision-Making, welches die Eltern und ihr Kind auf dem gemeinsamen Weg unterstützt.

Martin Gramc, Ziel des Training Networks ist es, den Personen mit VdG ein selbstbestimmtes Leben ohne chirurgische Eingriffe zu ermöglichen. Wie oft wird noch operiert?

Martin Gramc: In Deutschland zeigt sich, dass die Einführung des dritten Geschlechts und die Möglichkeit der Geschlechtsumwandlung von den Eltern nicht wirklich angenommen wird: Es gibt nicht weniger, sondern sogar mehr Operationen an Kindern mit VdG als vorher.

Warum nehmen chirurgische Eingriffe zu?

Das hängt sehr stark vom Land und von der Klinik ab. Nicht jedes Land hat genug Ressourcen, um Teams zu haben, die sich mit VdG beschäftigen, und nicht alle Teams sind gleich fortschrittlich. Aber es hängt auch davon ab, welche Art von VdG vorliegt. Wenn es sich in erster Linie um ein hormonelles Ungleichgewicht handelt, wird dies in der Regel mit Hormontherapie behandelt. Wenn es sich aber eher um eine genitale Abweichung handelt und das Team in erster Linie von einem Urologen geleitet wird, dann ist der Druck für eine Operation bei Ärzten und Eltern grösser. Denn die Eltern haben Angst, dass das Kind nicht in eine der Schubladen passt. Wenn es in einer Umkleidekabine ist oder auf der Strasse spielt, könnten andere den Unterschied sehen und Angst bekommen. Sie wollen also nicht, dass das Kind ausgeschlossen wird und drängen dann oft auf eine Operation.

Es ist also ein gesellschaftliches Problem?

Ja, unsere Gesellschaft ist nicht offener geworden für unsere körperlichen Unterschiede und für unsere Vorstellungen davon, was ein Mann oder eine Frau ist. Obwohl es in den Städten eine explosionsartige Zunahme der Körperfreundlichkeit und des Respekts für sexuelle und geschlechtliche Minderheiten gibt, drängt man auf der anderen Seite auf noch traditionellere männliche oder weibliche Rollen und Körper.

Ist die Operation das Hauptproblem?

Nein, ebenso wichtig ist es, wie man einer Person mit VdG sagen kann, dass sie diese bestimmte Variante hat. In vielen Fällen ist weder eine Operation noch irgendeine andere medizinische Behandlung notwendig. Aber für diese Menschen ist es wichtig, dass sie es wissen, wenn sie zum Beispiel einen anderen Arzt aufsuchen, damit sie die Behandlung bekommen, die sie brauchen. Oft haben Eltern Angst, ihren Kindern von ihrer Variation zu erzählen, weil sie glauben, dass dies etwas Schändliches ist. Daher müssen die Teams die Eltern dazu drängen und sie als Erziehungsberechtigte davon überzeugen, dass sie nicht nur gesetzlich, sondern auch aufgrund der medizinischen Praxis dazu verpflichtet sind, die Kinder über ihre Variation zu informieren.

Was ist der Schwerpunkt Ihres Teils der Studie?

Ich konzentriere mich auf medizinische Teams und verschiedene Selbsthilfegruppen, die an der gemeinsamen Entscheidungsfindung beteiligt sein können oder auch nicht. Ich untersuche also, was passiert, wenn ein Kind mit VdG geboren wird, wie diese medizinischen Fachleute zusammenkommen und entscheiden, wie sie Informationen über VdG-Kinder an ihre Eltern weitergeben, den Eltern erklären, was es bedeutet, ein solches Kind zu haben, aber auch diese medizinischen Teams mit einzubeziehen. 

Sie wollen mit Ihrer Studie die ideale Zusammensetzung des Betreuungsteams finden. Sind Sie schon so weit?

Ja. Es sollte medizinische Fachkräfte, psychosoziale Betreuer sowie Peer-Selbsthilfegruppen für Eltern und Peer-Selbsthilfegruppen für Menschen mit VdG umfassen. Diese beiden Gruppen sind in der Regel nicht in den medizinischen Teams vertreten.

Warum sind Peer-Support-Gruppen so wichtig?

Weil es Menschen sind, die dieses Leben und die medizinischen Behandlungen erlebt haben. Und man braucht jemanden, der die Erfahrung hat, ein VdG-Kind zu haben oder – was noch wichtiger ist – ein Leben mit VdG zu führen. 

Wie findet man solche Gleichgesinnten?

Das hängt von dem jeweiligen Land ab. In einigen Ländern gibt es Selbsthilfegruppen, die schon seit drei Jahrzehnten bestehen. In den grossen Städten der USA zum Beispiel, in Deutschland und im Vereinigten Königreich gibt es entsprechende Vereine. Aber in Slowenien, wo ich herkomme, und sogar in Schweden gibt es kaum VdG-Selbsthilfegruppen.

Wo steht die Schweiz?

Die Schweiz ist eine Vorreiterin, was ethische Empfehlungen für die Behandlung von Menschen mit VdG anbelangt – diese sind sogar noch progressiver als die deutschen. Der Schweizer Ethikbeirat hat diese Standards 2012 veröffentlicht. Dies führte zu einer positiven Veränderung der politischen Debatte in anderen Ländern, die folgten, wie etwa in Belgien. In Deutschland hat man das Gesetz geändert. Aber auch Länder wie Argentinien und Kolumbien waren in diesem Bereich sehr fortschrittlich, indem sie zeigten, dass diese medizinischen Behandlungen zum Wohle des Kindes durchgeführt werden und dass sie die Autonomie respektieren sollten. Nicht alles, was fortschrittlich ist, wird also im globalen Norden gemacht. 

Was sind bis jetzt die wichtigsten Erkenntnisse in Ihrer Arbeit?

Erstens, dass die psychosoziale Betreuung noch nicht so weit entwickelt ist, wie sie sollte: Meine Forschung und andere Untersuchungen zeigen, dass diese Unterstützung immer noch eine untergeordnete Rolle spielt. Psychologen und Psychiater sehen sehr selten ein Kind mit VdG und seine Familie ohne die Anwesenheit eines Arztes.

Und zweitens?

Die Überleitung der Versorgung vom Kindes- ins Erwachsenenalter findet sehr selten statt. Erwachsene Menschen mit VdG haben Schwierigkeiten, eine angemessene medizinische Versorgung zu finden. Die Behandlung solcher Menschen ist sehr stark auf die Pädiatrie konzentriert. Dies ist wahrscheinlich das wichtigste Ergebnis meiner Studie, das hoffentlich auch eine Veränderung für Menschen mit VdG bewirken wird. Eines der Ziele dieses Projekts ist es, ethische Empfehlungen für die medizinische Behandlung dieser Menschen zu verfassen, und das wird ein Teil davon sein. 

Und wo liegen die grössten Hürden bei der Implementierung dieser Studienresultate? 

Jürg Streuli: Wir dürfen nicht aufgeben. Es braucht Zeit. Die Veränderung ist ein Prozess, der auch fehlschlagen kann, wenn man nicht weiter aufeinander zugeht und sich zu früh voneinander verabschiedet. Es kann sein, dass Aktivisten irgendwann die Geduld verlieren – verständlicherweise, denn die Medizin und die Gesellschaft sind in ihren Veränderungen enorm zäh. Der Bundesrat hat jetzt entschieden, dass er kein drittes Geschlecht will. Die Begründung, dass die Gesellschaft noch nicht bereit ist, klingt zwar verständlich, ist aber zu pauschal. Wir haben eine Konsenskultur und dafür brauchen wir auch eine Entwicklung.

Sie sind für ein drittes Geschlecht?

Ich bin für Schritte, die unnötige Hürden abbauen. Beispielsweise bräuchte es das Geschlecht meiner Meinung nach nicht im Pass. In der ID ist es auch nicht.

Wird die Behandlung von Erwachsenen das Folgeprojekt von INIA?

Wir versuchen seit vielen Jahren, eine gute Transition aufzubauen – es ist aber sehr schwierig. Es mangelt an ganzheitlichen Ansätzen. Aber es gibt viel Grund zur Hoffnung und bereits Folgeprojekte, die auf unseren Erkenntnissen aus INIA aufbauen können: In einem Citizen-Science-Projekt der Universität Zürich versuchen wir beispielsweise, die transprofessionelle Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit allen Beteiligten mit einer Dachorganisation in der Schweiz fest zu verankern. Es sind meist kleine, aber beständige Schritte mit einem anhaltenden Lernprozess, der uns weiterbringt. Gerade auch von den Peer Support Groups, den Familien, aber auch den heranwachsenden Kindern können wir noch viel lernen.

Interview mit Martin Gramc (in Englisch)
Jürg Streuli

Jürg Streuli ist seit 2015 Oberassistent am Institut für Biomedizinische Ethik der Universität Zürich sowie Oberarzt am Kinderspital Zürich und seit 2019 leitender Arzt am Ostschweizer Kinderspital in St. Gallen. Er hat in Zürich Medizin studiert und sich auf Medizinethik und Palliative Care im Kindes- und Jugendalter spezialisiert. Jürg Streuli ist verheiratet, Vater von zwei Kindern und wohnt in Uznach.

Martin Gramc

Martin Gramc ist LGBTIQ+-Aktivist, Forscher und Autor aus Slowenien. Sein Studium in Geschlechterforschung an der Universität Ljubljana schloss er 2018 mit dem Masterdiplom ab und war dann am Friedensinstitut in Ljubljana sowie in verschiedenen LGBTI+-Organisationen und -Kampagnen in seiner Heimat, in Kroatien und in Deutschland (Berlin) tätig. Seit Januar 2021 arbeitet er als Doktorand an der Universität Zürich.

Horizon 2020 Projekt

INIA: Intersex – New Interdisciplinary Approaches

  • Projektart: Marie Skłodowska-Curie European Training Networks
  • Laufzeit: 1. März 2020 – 31. August 2024 (54 Monate)
  • Beitrag für die Universität Zürich: 562’553 €

www.intersexnew.co.uk

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