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Auf der Suche nach der verborgenen Ordnung

Wie schafft sie es, Materialien mit Eigenschaften zu versehen, die sich eigentlich nicht vertragen? Wie hilft ihr der ERC Synergy Grant, Verborgenes zu entdecken? Und wie hält sie in Coronazeiten Forschung und Lehre in Schuss? Ein Gespräch mit Nicola Spaldin, Professorin für Materialtheorie an der ETH Zürich.

«Unser Forschungsgebiet ist vielleicht eines der Covid-19-tauglichsten», sagt Nicola Spaldin mit einem Augenzwinkern, als ich sie an einem Montagmorgen im Januar über Zoom zum Gespräch treffe. In ihrer Aussage steckt eine gute Portion britischer Humor, denn Nicola Spaldin arbeitet seit nahezu einem Jahr fast ausschliesslich aus dem Homeoffice. Dass sie in ihrer Forschungstätigkeit trotzdem vorankommt, ist zwei Umständen zu verdanken. Zum einen beschäftigen sie und ihr Team sich vor allem mit der Theorie von Materialien und simulieren dazu Modelle am Computer. Zum andern haben sich die Professorin und ihre Forschungsgruppe rasch den Corona-Restriktionen angepasst und sich effizient organisiert. Wie sieht ihr Programm denn für heute und den Rest der Woche aus, frage ich Nicola Spaldin.  

«Den Montag versuche ich für meine eigene Forschungsarbeit frei zu halten, Papers zu lesen, neue Theorien auszuarbeiten und zu schreiben. Der Rest der Woche ist dann gefüllt mit Meetings über Zoom; Einzelgespräche mit Doktorierenden und Studierenden, das wöchentliche Teammeeting, Gespräche und Konferenzen mit Forschungspartnern und Kollegen in der Schweiz und im Ausland. Zu Beginn der Coronakrise dauerten meine Arbeitstage wegen der Zeitunterschiede bis zu 16 Stunden, da viele Kollegen und Kooperationspartner in den USA oder China arbeiten. Inzwischen versuche ich, nicht mehr als vier Zoom-Besprechungen pro Tag anzusetzen, auch um die Augenbelastung in Grenzen zu halten. Aber abgesehen davon, dass alle Meetings jetzt virtuell stattfinden, ist die Arbeitsweise gar nicht so anders, als vor der Pandemie.»

Neben ihrer theoretischen Arbeit betreibt Nicola Spaldin auch ein Versuchslabor. Wie geht das in Zeiten von Corona? «Da hatten wir Glück. Ich habe einen Spezialisten im Team, der die Experimente durchführt und zu hundert Prozent im Labor arbeitet. Das funktioniert auch unter den Corona-Sicherheitsbedingungen der ETH Zürich, da ausser ihm niemand im Labor ist.»

Das klingt alles sehr rational. Gibt es auch Dinge, die Nicola Spaldin im Alltag vermisst? «Auf jeden Fall. Die spontanen Kontakte in den Kaffeepausen, die Begegnungen zwischen den Meetings oder beim Lunch, bei denen sich in fünf Minuten Ideen austauschen und Fragen klären lassen. Und dann fehlt mir natürlich auch das normale soziale Leben. Was ich hingegen gar nicht vermisse, ist das viele Reisen zu Kongressen und Veranstaltungen. Wissenschaftliche Konferenzen finden nach wie vor digital statt und die funktionieren, wenn es um den Wissensaustausch geht, ganz gut. Aber für junge Forschende, die am Anfang ihrer Karriere stehen, ist diese Situation schlimm. Unter normalen Umständen bieten ihnen die internationalen Fachkongresse Plattformen, um Kontakte zu knüpfen und ihre Netzwerke aufzubauen. Das fehlt im Moment total.»  

Multiferroika – Kombination vermeintlich inkompatibler Eigenschaften 

Vor 20 Jahren stiess Nicola Spaldin als junge Postdoktorandin an der Yale University zufällig auf das Forschungsthema, das sie bis heute umtreibt: das Herstellen von Multiferroika – von Materialien, die zwei Eigenschaften vereinen, die sich nicht zu vertragen scheinen. Materialien sind entweder ferromagnetisch, weisen einen magnetischen Süd- und Nordpol auf. Oder sie sind ferroelektrisch, zeigen eine negative und positive Ladung und elektrische Dipole. Materialien, die beide Eigenschaften besitzen, finden sich in der Natur nicht, zumindest nicht in einer Form, die sich technologisch nutzen lässt. Doch genau um die Nutzung dieser beiden Eigenschaften geht es. In unseren heutigen Rechnern beruht die Speicherung von Daten auf ferromagnetischen Materialen. Die Steuerung erfolgt über elektrische Ströme. Dieser Prozess erfordert sperrige Komponenten und braucht viel Energie. Wenn es Forschenden gelingt, multiferroische Materialien herzustellen, die Ferromagnetismus und Ferroelektrizität kombinieren, könnte der Ferromagnetismus mit Hilfe elektrischer Felder gesteuert werden. Dies wäre eine technische Revolution. Die Computer würden kleiner, leichter, schneller und energieeffizienter. Nicola Spaldin und ihre Gruppe versuchen, solch multiferroischen Materialien zu konzipieren und herzustellen. Wie gehen sie dabei vor? 

«Am Anfang verbringen wir viel Zeit mit Papier und Bleistift, um uns die physikalischen und chemischen Grundlagen für das Design zu erarbeiten. Wir überlegen, welche Atome aus dem Periodensystem passen könnten und wo sie in der Struktur des Materials zu positionieren wären. Dann berechnen wir mit Hilfe des Computers die Eigenschaften der Struktur, die wir entworfen haben. Sieht das Resultat vielversprechend aus, stellen wir im Labor eine Probe her. Oft zeigt schon die Berechnung des Computers, dass es nicht funktioniert. Dies ist auch ein Erfolg, denn wir wissen nun, dass wir die Theorie noch nicht ganz verstanden haben. Es kommt aber auch vor, dass die Computerberechnungen gute Materialeigenschaften anzeigen, das Material sich im Labor aber nicht herstellen lässt oder die gewünschten Eigenschaften nicht aufweist. Und gelegentlich finden wir auch Dinge, die wir gar nicht gesucht haben. Dazu ein schönes Beispiel: Wir hatten im Computer ein wunderbar funktionierendes Design eines multiferroischen Materials entworfen. 

«Am Anfang verbringen wir
viel Zeit mit Papier und Bleistift,
um die Grundlagen für
das Design zu erarbeiten.»

Bei der Herstellung im Labor zeigte sich aber, dass das Material doch nicht so gelang, wie wir es uns vorgestellt hatten, da sich die Atome nicht dort platzieren liessen, wo wir sie haben wollten. Aber das Material, das wir da erfunden hatten, war von einem wundervollen tiefdunklen Blau. Unser damaliger Kollaborationspartner, ein Kollege an der Oregon State University, der bei diesem Projekt die Proben für uns synthetisierte, ging dann eine Kooperation mit einem Farbhersteller ein, um aus unserem Material umweltfreundliche synthetische blaue Pigmente zu entwickeln.»

In den Materialien, mit denen Nicola Spaldin arbeitet, bewegen sich Milliarden von Elektronen, die sich alle gegenseitig beeinflussen. Das Zusammenspiel zweier einzelner Elektronen lässt sich berechnen, da die physikalischen Gesetze, nach denen es abläuft, bekannt sind. Aber die Komplexität, die aus der Interaktion von Milliarden von Elektronen entsteht, führt zu neuen exotischen Eigenschaften, die bis heute nicht verstanden sind. «Wir können das durchschnittliche Verhalten der Elektronen zwar messen. Die grosse Herausforderung besteht aber darin, herauszufinden, was die Messung über das verborgene Verhalten der einzelnen Elektronen aussagt», erklärt mir Nicola Spaldin und kommt damit auf den ERC Synergy Grant zu sprechen, den sie 2019 zusammen mit Kollegen der ETH Zürich und des Paul Scherrer Instituts (PSI) sowie der ETH Lausanne und dem Nordic Institute of Theoretical Physics (NORDITA) in Stockholm erhalten hat. 

HERO enthüllt verborgene Eigenschaften

In ihrem gemeinsamen ERC-Forschungsprojekt mit dem Namen HERO (HEROHidden Entangled and Resonating Orders) suchen die Materialtheoretikerin und die drei Physiker nach verborgenen Eigenschaften von kristallinen Feststoffen, die mit den bisherigen experimentellen Methoden nicht sichtbar gemacht werden konnten. Mit dem HERO-Projekt weitet Nicola Spaldin ihr Forschungsgebiet der Multiferroika also um ein neues grosses Fenster aus, das sie so umschreibt: 

«Wir suchen nach dem, was wir als verborgene Ordnung bezeichnen. Ein Beispiel dafür sind Materialien, die weder ferromagnetisch noch ferroelektrisch sind, aber trotzdem reagieren, wenn wir ein elektrisches oder magnetisches Feld an sie anlegen. Die Reaktion zeigt, dass es eine versteckte Ordnung mit ferromagnetischen oder ferroelektrischen Charakteristiken geben muss, die auf einen exotischen quantenmechanischen Prozess im Innern des Materials zurückzuführen ist. Wir wollen die richtige Messung finden, um diese verborgene Ordnung zu enthüllen.» 

Dazu ist das HERO-Quartett mit dem Photonenforscher Gabriel Aeppli (PSI/ETH Zürich), dem Neutronenwissenschaftler Henrik Rønnow (EPFL), dem Theoretischen Physiker Alexander Balatsky (NORDITA) und der Materialtheoretikerin Nicola Spaldin (ETH Zürich) gut aufgestellt. Die technisch und konzeptionell äusserst anspruchsvollen Messungen erfolgen auf den Grossforschungsanlagen des PSI in Villigen. Die elektronische Auswertung der Daten geschieht auf einem Supercomputer des Nationalen Hochleistungsrechenzentrums CSCS in Lugano und dem Euler-Superrechner der ETH Zürich. 

«Gelegentlich finden wir
auch Dinge, die wir
gar nicht gesucht haben.»

Auf meine Frage, welche Resultate sie sich denn vom HERO-Projekt verspricht, meint Nicola Spaldin: «Unser Ziel ist, das komplexe Zusammenspiel der vielen Elektronen so gut zu verstehen, dass wir dereinst Voraussagen über ihr Verhalten machen können. Wir könnten dann Materialien entwerfen und herstellen, die genau jene Eigenschaften haben, die wir wollen. Heute können wir dies zwar schon, aber nur in einem sehr beschränkten Mass. Mit dem neuen Verständnis wäre es vielleicht eines Tages sogar möglich, den Traum vom Supraleiter, der bei Raumtemperatur funktioniert, wahr werden zu lassen. Aber was wir im Moment machen, ist reine Grundlagenforschung.» Und dann erläutert Nicola Spaldin am Beispiel einer anderen Materialeigenschaft – dem Antiferromagnetismus – wie lange es von der Entdeckung eines versteckten Phänomens bis zur technischen Anwendung dauern kann. «Die ersten Hinweise auf antiferromagnetisches Verhalten von Materialien zeigten sich in einem Experiment in den 1930er-Jahren. Die Messungen brachten Resultate, die sich nicht deuten liessen. Der französische Physiker Louis Néel entwickelte hierauf eine Theorie des Antiferromagnetismus, welche die gemessenen Beobachtungen erklärte. Aber es gab noch keine direkten Beweise, dass diese Theorie auch stimmte. In den 1950er-Jahren gelang es dann dem amerikanischen Physiker Clifford Shull, das Phänomen exakt zu messen und 1970 erhielt Louis Néel den Nobelpreis für die Theorie des Antiferromagnetismus. Die technologische Anwendung im grossen Stil erfolgte aber erst in den späten 1990er-Jahren. Heute beruht fast jeder Magnetsensor, den man im Handel erhält, auf einem Antiferromagneten und die technologische Nutzung des Antiferromagnetismus ist ein Milliardengeschäft. Wir stehen mit unserer Forschung heute etwa dort, wo man in den 1930er-Jahren beim Antiferromagnetismus war. Im Moment haben wir keine Ahnung, wozu unsere Ergebnisse dereinst verwendbar sein werden. Vielleicht erleben wir das ja auch gar nicht mehr.»

Im Dienst der EU-Forschungsförderung

Nicola Spaldin ist eine international anerkannte Spitzenforscherin. Das belegen nicht nur die Auszeichnungen, die sie in den letzten Jahren erhalten hat. Dafür steht auch ihre Ernennung zum Mitglied des Wissenschaftsrats des Europäischen Forschungsrats (ERC) durch die Europäische Kommission. In dieser Funktion wird Nicola Spaldin in den nächsten vier Jahren die Forschungsförderung der Europäischen Union entscheidend mitgestalten. Was kann sie da bewirken? 

«Eine der Kernaufgaben des Wissenschaftsrats sehe ich darin, der Politik, den Medien und der Öffentlichkeit aufzuzeigen, wie wichtig Grundlagenforschung ist, die von wissenschaftlicher Neugier angetrieben wird. Dann ist der Wissenschaftsrat ja auch der Verwaltungsrat des ERC. Er entscheidet über neue Programme der Forschungsförderung und die Gestaltung und Qualitätssicherung der Evaluationsprozesse. Und natürlich hoffe ich, dass ich meine Position auch nutzen kann, um die grosse Bedeutung der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit hervorzuheben und für die Mitwirkung der Schweiz am Programm Horizon Europe einzutreten.»

Inzwischen ist es halb elf Uhr geworden. Bevor Nicola Spaldin wieder zu ihrer Arbeit im Homeoffice zurückkehrt, möchte ich noch wissen, was bei ihr in den nächsten Tagen und Wochen auf dem Programm steht. «Heute Morgen habe ich begonnen, die Arbeit eines meiner Studenten zu lesen. Die lese ich jetzt zu Ende. Und in den kommenden Wochen werde ich eine Anzahl Papers zu schreiben haben, meine Doktorierenden und Postdoktorierenden bei ihrer Forschung begleiten und ab Ende Februar wieder meine Lehrveranstaltungen durchführen, über Zoom versteht sich.» Und dann fügt sie, bevor wir uns aus dem Meeting ausklinken, noch lachend hinzu: «Ja, und dann hoffe ich, endlich diese Corona-Impfung zu erhalten!»

© Daniel Rihs
Nicola Spaldin

Nicola Spaldin schloss ihr Studium 1991 an der Universität Cambridge (UK) mit einem B.A. in Naturwissenschaften ab. An der Universität von Kalifornien in Berkeley promovierte sie 1996 in Chemie. Anschliessend arbeitete sie als Postdoktorandin im Departement für Angewandte Physik an der Yale University. Von dort wechselte sie an die Universität von Kalifornien in Santa Barbara, wo sie am Departement für Materialwissenschaften als Assistenzprofessorin (1997-2002), ausserordentliche Professorin (2002-2006) und ordentliche Professorin (2006-2010) wirkte. 2010 wurde sie als ordentliche Professorin für Materialwissenschaften an die ETH Zürich berufen. Seit dem 1. Januar 2021 ist Nicola Spaldin Mitglied des Wissenschaftsrats des Europäischen Forschungsrats ERC.

Copyright © 2019 Frank Lichtenberg, ETH Zurich
www.friedrun-reinhold.com
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Horizon 2020 Projekt

HERO: Hidden Entangled and Resonating Orders

  • Projektart: ERC Synergy Grant (4 Partner)
  • Laufzeit: 1. Mai 2019 – 30. April 2025 (72 Monate)
  • Beitrag für die ETH Zürich: 2’499’999 €
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