
Zwischen Volkssouveränität und Rechtsstaatlichkeit
Volksabstimmungen zu umstrittenen Themen wie dem Burkaverbot sind seine Spezialität: Prof. Dr. Daniel Moeckli, Professor für Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Völkerrecht und vergleichendes Verfassungsrecht an der Universität Zürich, erforscht mit einem ERC Grant die Grenzen der direkten Demokratie – und wie man im Umgang mit Referenden internationale Standards setzen könnte.
Daniel Moeckli, die Schweiz hat im März über das Verhüllungsverbot abgestimmt. Welches Gesetz verletzt dieses Verbot?
Ob irgendwelche Normen damit verletzt werden, ist umstritten. Beim Verhüllungsverbot stellt sich die Frage, ob es vereinbar ist mit der Religionsfreiheit und dem Verbot der religiösen Diskriminierung. In Bezug auf die Verhüllungsverbote von Frankreich und Belgien kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zum Schluss, dass diese mit der Religionsfreiheit vereinbar sind. Der UNO-Menschenrechtsausschuss dagegen hat im Falle des französischen Burkaverbots entschieden, dass es die Religionsfreiheit sowie das Diskriminierungsverbot verletzt.
Das heisst also, es ist nicht klar, was nun gilt.
Genau, das Verhüllungsverbot ist ein gutes Beispiel dafür, welche Probleme es aufwirft, wenn man Volksinitiativen oder -abstimmungen über bestimmte Fragen verbietet. Ob das Verhüllungsverbot die Menschenrechte verletzt, ist umstritten. Zwei Organe kommen zu unterschiedlichen Schlüssen. Und doch müsste letztlich jemand darüber entscheiden.
Sie erforschen die Grenzen der direkten Demokratie anhand von solchen und anderen Referenden. Hat Sie ein bestimmtes Referendum dazu bewogen oder eher der Trend zu mehr Referenden innerhalb von Europa?
Ich befasse mich schon länger mit dieser Thematik – meine Antrittsvorlesung in Zürich im Jahre 2013 widmete ich dem Minarettverbot. In der Schweiz kennen wir die Thematik ja schon lange. Dass sie in Europa nun je länger je mehr zum Problem wird, hängt einerseits mit der zunehmenden Einführung von direktdemokratischen Instrumenten zusammen. Selbst Länder wie Grossbritannien und die Niederlande, die bislang Volksabstimmungen nicht kannten, haben in den letzten Jahren Referenden durchgeführt. Andererseits gehen als Folge der Globalisierung immer mehr Staaten immer mehr völkerrechtliche Pflichten ein. Dadurch wird der politische Spielraum auf der nationalen Ebene immer mehr eingeengt. Dies führt dazu, dass es immer häufiger zu Konflikten zwischen Volkssouveränität und Rechtsstaatlichkeit kommt.
Seit November 2018 arbeiten Sie nun an einem europaweiten Projekt, das dieses Spannungsfeld untersucht und das Verhältnis zwischen Volkssouveränität und Rechtsstaatsprinzip klären soll. Sind alle 47 dem Europarat angehörenden Länder dabei involviert?
Ja. Das war die Arbeit der ersten zwei Jahre, eine Datenbank namens LIDD-Dashboard zu errichten. Zwei Doktoranden waren fast ausschliesslich damit beschäftigt. Jetzt finden Sie darin zu allen 47 Ländern Angaben dazu, welche direktdemokratischen Instrumente sie haben, wie die Grenzen definiert sind und wer die Einhaltung dieser Grenzen überprüft. Alle Daten sind auch je von einem Länderexperten verifiziert worden.
Wie finden Sie in den Ländern verlässliche Partner?
In Osteuropa war dies teilweise schwierig, aber wir haben in allen Ländern Experten gefunden, die uns halfen.
Da muss eine ungeheure Menge an ganz unterschiedlichen Daten zusammenkommen. Wie lassen sich diese harmonisieren?
Das war vielleicht die grösste Hürde. Wir haben zum Beispiel sieben verschiedene Kategorien von direktdemokratischen Instrumenten definiert. Die entsprechende Einordnung kann man nicht maschinell machen, sondern es muss von Fall zu Fall im Team entschieden werden. Dazu kam die Unterscheidung von verschiedenen materiellen und formellen Grenzen.
Was ist darunter zu verstehen?
Materielle Grenzen sind bestimmte Sachgebiete, die vom Zugriff der direkten Demokratie ausgeschlossen werden. In bestimmten Ländern sind dies etwa die Finanzen oder die nationale Sicherheit. Oder es wird gesagt, alles, was das Völkerrecht verletzt, darf nicht einer Volksabstimmung unterworfen werden. Bei den formellen Grenzen geht es um die Abstimmungsfreiheit, insbesondere die Klarheit der Abstimmungsfrage: Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger müssen den Inhalt der Abstimmung verstehen und frei entscheiden können. Die Einheit der Materie gehört auch dazu: Man soll nur über einen Inhalt abstimmen, nicht, wie etwa bei der Ecopop-Initiative, über zwei Teile, die nur eine Antwort erlauben.
Sie beziehen in Ihrem Projekt die Europäische Bürgerinitiative (EBI) mit ein, die EU-Bürgern erlaubt, der Europäischen Kommission Vorschläge zur Änderung von Gesetzen zu unterbreiten. Wie wichtig ist diese?
Die EBI ist ein schwaches direktdemokratisches Instrument, eine so genannte Agenda-Initiative, die den Bürgerinnen und Bürgern nur erlaubt, ein Thema auf die politische Agenda zu setzen. Wenn eine Million Personen die Initiative unterschreiben, geht sie an die Europäische Kommission, welche dann Stellung nehmen muss. Sie führt also nicht zu einem Referendum und man kann die EU damit zu nichts zwingen. Trotzdem wird die Initiative rege genutzt. Seit ihrer Einführung 2012 sind fast 100 Initiativen lanciert worden und sechs sind zustande gekommen. Für uns ist die EBI als supranationales direktdemokratisches Instrument interessant.
Sie blicken 30 Jahre zurück. Warum gerade diese Zeitspanne?
Wegen der Wende. Nach 1989 haben viele ehemals kommunistische Länder eine neue nationale Verfassung geschaffen und direktdemokratische Instrumente eingeführt. Vor allem osteuropäische Staaten haben seither ähnliche Probleme wie die Schweiz, Liechtenstein oder Italien. So wurde etwa in den letzten Jahren in Slowenien, Kroatien, Rumänien und der Slowakei über ein Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe abgestimmt.
Wie viele Fälle gibt es denn, bei denen der Souverän mit seinem Entscheid internationales oder anderes Recht verletzt hat?
Das kann ich noch nicht genau beziffern. Wir haben mit der Datenbank erst die Grundlage für eine Analyse geschaffen. Jetzt können wir alle Abstimmungen durchsehen. In einem ersten Schritt geht es darum zu definieren, welche Volksabstimmungen und Volksinitiativen als fraglich einzustufen sind. Dafür braucht es eine einheitliche Betrachtungsweise. So viel kann ich aber schon sagen: In der Schweiz gibt es einige, aber auch in anderen Ländern. Ungarn hat ein Referendum über EU-Flüchtlingsquoten durchgeführt, das ziemlich klar europäisches Recht verletzt. Die Verbote gleichgeschlechtlicher Ehe in den erwähnten Staaten sind problematisch, aber auch etwa die Brexit-Abstimmung.
Was ist bei der Brexit-Abstimmung falsch gelaufen?
Möglicherweise wurde eine formelle Grenze tangiert: Die rechtlichen Folgen des Referendums waren nicht definiert. Es war also nicht bestimmt worden, was nach einer Annahme passieren soll. Die Verfassungsgerichte vieler europäischer Staaten verlangen als Teil des Klarheitserfordernisses, dass die rechtlichen Konsequenzen des Ausgangs eines Referendums im Voraus definiert worden sind.
Für das breite Publikum sind inhaltliche Grenzen wohl einfacher zu verstehen als solche formellen. Welche sind in der Praxis wichtiger?
Es sind beide wichtig, aber schwieriger zu definieren sind die formellen Grenzen, also zu entscheiden, ob eine Abstimmungsfrage genug klar ist oder die Einheit der Materie verletzt ist.
Solche Fragen sind also für Sie spannender?
Ja – denn es gibt mehr Rechtsprechung dazu. Eine ganze Reihe von Gerichtsurteilen widmet sich genau diesem Thema, in Italien und Portugal zum Beispiel, aber auch in der Schweiz. Sie definieren etwa, was eine klare Abstimmungsvorlage ist. In einem Gesetz oder einer Verfassung ist das schwierig zu umschreiben. In der Praxis werfen die formellen Grenzen also mehr Probleme auf, weil sie weniger greifbar sind als etwa Finanzen oder andere Inhalte.
Sie sind jetzt fast in der Halbzeit des fünf Jahre dauernden Forschungsprojekts. Können Sie schon eine Zwischenbilanz ziehen?
Mit der Datenbank haben wir die Grundlage geschaffen, um jetzt Abstimmungen einzeln anzuschauen und zu sehen, ob allenfalls Grenzen verletzt wurden und ob es dazu Gerichtsentscheide gibt. Erstaunlich ist die Vielfalt der direktdemokratischen Instrumente unter den 47 Staaten. Und es ist klar geworden, dass sehr viele Länder Probleme im Umgang mit unserem Forschungsthema haben, also etwa damit, was eine klare Abstimmungsfrage ist. Dazu gibt es eine reiche Rechtsprechung, die bislang nicht verglichen wurde und die wir nun analysieren können.
Was waren bislang die grössten Hürden?
Die Datenbank gab deutlich mehr zu tun, als wir das anfangs angenommen hatten, weil wir unsere Kategorisierungen und Definitionen immer wieder überdenken und diskutieren mussten. Im letzten Jahr war die Pandemie ein Problem. Der Politologe in unserem Team arbeitet in Zypern. Wir haben gezielt Team-Mitglieder aus verschiedenen Ländern gesucht. Eine Doktorandin kommt aus Ungarn, weil dort mehr Volksinitiativen eingereicht werden als in der Schweiz, aber über 90 Prozent davon für ungültig erklärt werden. Vor der Pandemie konnten wir uns regelmässig physisch treffen, zusammen essen gehen etc. Dieser Austausch fehlt jetzt.
Jetzt suchen Sie nach minimalen Standards im Umgang mit direktdemokratischen Instrumenten.
Ja, das ist der erste Schritt. In einem zweiten möchten wir dann Empfehlungen entwickeln, die über das Minimum hinausgehen. Und fast noch wichtiger als die Grenzen ist die Frage, wer entscheidet, ob die Grenzen eingehalten sind: Ist dies wie bei uns bei den eidgenössischen Volksinitiativen das Parlament, ein Gericht oder wie in Ungarn eine Wahlkommission – und wie die Verfahren aussehen, d.h. etwa wie sich die Initiantinnen und Initianten gegen diese Entscheide wehren können.
Können Sie die Empfehlungen, also quasi die Best Practices, schon etwas umreissen?
Bei den materiellen Grenzen ist ein Minimalstandard wohl jener, dass man über die Todesstrafe nicht abstimmen darf – darüber scheint man sich in Europa einig zu sein. Wollte man darüber hinaus auch ausschliessen, was dem Völkerrecht oder Menschenrechten widerspricht, müsste man zuerst definieren, was eine solche Verletzung darstellt. Auch das formelle Klarheitserfordernis scheint in ganz Europa eine minimale Anforderung zu sein. Was die Behörden und Verfahren anbelangt, scheint klar, dass die entscheidende Behörde eine gewisse Unabhängigkeit haben muss. Eine darüber hinaus gehende Empfehlung wäre wohl die Transparenz der Verfahren, wofür dann gewisse Staaten als Beispiel für die Best Practice gelten könnten.
Empfehlen Sie dann auch, welches Gremium über die Zulässigkeit von Volksabstimmungen entscheiden sollte?
Ja. Gerade in der Schweiz liegt bei der eidgenössischen Volksinitiative das Problem weniger bei der Definition der Grenzen, als vielmehr bei der Tatsache, dass das eidgenössische Parlament über die Gültigkeit von Initiativen entscheidet. Es gibt keine Möglichkeit, seinen Entscheid anzufechten. Es ist problematisch, dass eine politische Behörde einen rechtlichen Entscheid abschliessend fällt. Auch in anderen Ländern entscheidet das Parlament über Volksinitiativen, aber dass es dies abschliessend macht, ist die grosse Ausnahme.
Interview mit Daniel Moeckli
Daniel Moeckli
Daniel Moeckli ist seit 2018 Professor für Öffentliches Recht mit internationaler und rechtsvergleichender Ausrichtung an der Universität Zürich. Er studierte Rechtswissenschaften an der Universität Bern und erwarb dort das Anwaltspatent. Nach einer Weiterbildung in London arbeitete er als Legal Adviser für Amnesty International in London, bevor er an der Universität von Nottingham doktorierte und für seine Arbeit mit dem Prix Paul Guggenheim ausgezeichnet wurde. Am Europäischen Hochschulinstitut (EHI) in Florenz erwarb er das Diplom in Human Rights Law. Nach drei Jahren als Dozent für Völkerrecht und Verfassungsrecht an der Universität von Nottingham kam er 2009 als Oberassistent an die Universität Zürich, wo er ab 2012 bis 2018 als Assistenzprofessor tätig war und 2014 habilitierte. Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte führten ihn nach New York, Florenz, Jerusalem und Cambridge.
Horizon 2020 Projekt
LIDD: Popular Sovereignty vs. the Rule of Law? Defining the Limits of Direct Democracy
- Projektart: ERC Consolidator Grant
- Laufzeit: 1. November 2018 – 31. Oktober 2023 (60 Monate)
- Beitrag für die Universität Zürich: 1’963’935 €