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Der beste Ort für die ambitioniertesten Projekte

Der Mathematiker Jean-Pierre Bourguignon war von 2014 - 2019 Präsident des Europäischen Forschungsrats ERC. Zurzeit versieht er das Amt interimistisch. Rolf Probala hat sich mit ihm über seine Erfahrungen mit Horizon 2020 und die Herausforderungen von Horizon Europe unterhalten.

Herr Bourguignon, wenn Sie auf Horizon 2020 zurückblicken, welche Bilanz ziehen Sie?

Jean-Pierre Bourguignon: Bei der Gründung des ERC 2007 hat sich die Gemeinschaft der Forschenden darauf geeinigt, dass Qualität das einzige Auswahlkriterium sein soll, um Forschungsbeiträge vom ERC zu erhalten. Das hat funktioniert. Als ich das Amt des ERC-Präsidenten antrat, hatte die Forschungsförderung des ERC eine beachtliche «Flughöhe» erreicht. Ich stand vor der Herausforderung, diese «Flughöhe» zu halten. Wir mussten die Forschenden weiterhin davon überzeugen, dass der ERC der beste Ort ist, an dem sie ihre ambitioniertesten Projekte einreichen können. Zugleich mussten wir die besten Forschenden motivieren, als Evaluatoren für den ERC zu arbeiten. Beides ist gelungen. Während der Laufzeit von Horizon 2020 konnten wir die «Flughöhe» sogar noch etwas steigern. Das war entscheidend, denn der ERC macht nur Sinn, wenn er die kühnsten Projekte anzieht und diese von den besten Forscherinnen und Forschern evaluiert werden. 

Wo orten Sie die grösste Herausforderung, die sich dem ERC mit Horizon Europe stellt? 

Die Corona-Pandemie hat die Regierungen enorm unter Druck gesetzt, für drängende Probleme rasch Lösungen zu liefern. Diesen Druck gab es schon zuvor, aber Corona hat ihn verstärkt. Ich befürchte, dass nationale Finanzierungsagenturen künftig bei der Vergabe ihrer Forschungsmittel nicht mehr nur aus der Sicht der Forschenden Bottom-up, sondern zunehmend aus politischer Optik Top-down entscheiden. Eine solche Entwicklung würde den ERC indirekt treffen. Wir beurteilen Forschungsanträge zwar nach wie vor nach Kriterien der wissenschaftlichen Qualität. Wenn aber nationale Forschungsförderungsagenturen ihre Mittel vermehrt für Projekte zur kurzfristigen Lösung aktueller Probleme vergeben, haben sie weniger Geld für Grundlagenforschung. Viele Forschende, die sich sonst national finanzierten, werden ihre Anträge dann beim ERC einreichen. Damit sinkt die Chance für alle Antragssteller, von uns eine Projektfinanzierung zu erhalten, da unser Budget beschränkt ist. Nun wissen wir aus Erfahrung: Wenn die Erfolgsrate für die Zustimmung zu einem Projektantrag unter 10% liegt, reichen die besten Forschenden ihre Projekte nicht mehr bei uns ein. Sie betrachten das Verfahren dann als Lotterie und das unterminiert die Position des ERC. 

Eine Neuerung in Horizon Europe ist der Ansatz, dass sich Projekte auf eines der fünf strategischen Missionsgebiete ausrichten sollen. Was bedeutet dies für den ERC?

Dieser missionsgeleitete Ansatz der EU-Kommission ist nicht völlig neu und die Verantwortlichen, welche die Missionsziele umsetzen, haben seit jeher einen anderen Approach als wir. Sie haben das Programm als Ganzes im Blick und funktionieren Top-down, während der ERC Bottom-up entscheidet. Das ist ja gerade das Besondere am ERC, dass er mit seinem Wissenschaftsrat von einem Gremium von Spitzenforschenden kontrolliert wird, das die Wissenschaftsgemeinschaft repräsentiert und dass die Projektanträge nach Kriterien wissenschaftlicher Exzellenz beurteilt werden. Gerade weil der ERC so anders funktioniert, ist es wichtig, dass wir mit den Verantwortlichen der Mission Boards im Gespräch bleiben. Sie brauchen die Erkenntnisse der Wissenschaft für ihre Umsetzungsarbeit und da ist es doch naheliegend, ihnen die Inhalte der ERC-Forschungsprojekte zugänglich zu machen. Wir haben demnächst ein Treffen mit den Leuten der Mission Boards, bei dem es darum geht, diese Vermittlung möglichst effizient zu gestalten.  

Eine weitere Neuerung ist der Europäische Innovationsrat (EIC). Wie sehen Sie die Zusammenarbeit mit dem EIC?

Die Idee des EIC stammt vom früheren Kommissar für Forschung, Wissenschaft und Innovation, Carlos Moedas. Er fand, die Innovationsförderung erfolge zu sehr in Silos und er wollte einen offenen Raum schaffen, in dem Innovatoren ihre Projekte in einer ähnlichen Kultur einreichen können, wie sie beim ERC herrscht. Der ERC war das Modell für den EIC. Aber es gibt kulturelle Unterschiede. Hinter dem ERC steht die Gemeinschaft der Forschenden mit gemeinsamen Regeln. Beides gibt es unter den Innovatoren in dieser Form nicht. Wir suchen auch mit dem EIC das Gespräch, um Synergien zu schaffen. Unsere Zusammenarbeit hat gerade begonnen. Wir bereiten ein Treffen von Mitgliedern des EIC und des Wissenschaftsrats des ERC vor, bei dem wir uns besser kennenlernen und die künftige Kooperation ausloten wollen.  

Sie waren viele Jahre ERC-Präsident. An welche besonderen Momente Ihrer Amtszeit denken Sie gerne zurück?

Gerne erinnere ich mich an die Begegnungen mit jungen Forschenden, bei denen sie mir spontan erzählten, dass sie ihre Forschungsanträge zuerst bei nationalen Förderagenturen eingereicht hatten, dort aber abgelehnt wurden, weil ihre Projekte als zu risikoreich galten. Der ERC habe ihre Forschungsvorhaben dann finanziert. Diese Aussagen haben mich immer sehr gefreut. Ganz offensichtlich haben unsere Evaluationskomitees das Potential dieser Forschungsanträge erkannt und sind das Risiko eingegangen, sie zu finanzieren. Eine andere unvergessliche Erfahrung betrifft den sogenannten Juncker-Plan 2015. Die Kommission wollte einen Fonds zur Innovationsförderung schaffen. Das Geld dafür sollte zum Teil den Budgets des ERC und weiterer Programme von Horizon 2020 entnommen werden. Wir empfanden dies als eine Art Steuer, da es keine Möglichkeit gab, die abgezogenen Mittel über Projekte zurückzuholen. Daher startete ich mit Unterstützung vieler Forschenden eine Kampagne gegen diese kalte Budgetkürzung. Anfänglich wollte die Kommission nicht auf unser Anliegen eingehen. Doch dann legte sich die Wissenschaftsgemeinschaft ins Zeug. Es gelang uns, eine Reihe von Nobelpreisträgern für ein Mittagessen mit Jean-Claude Juncker in Brüssel zu gewinnen und dieser Lunch brachte die Wende. Am Ende wurde die vorgesehene Kürzung des Horizon 2020-Budgets um 500 Millionen Euro reduziert und der ERC erhielt die 220 Millionen Euro zurück, die ihm weggenommen werden sollten. Die Geschichte zeigt, dass die Wissenschaftsgemeinschaft gut begründete Anliegen durchsetzen und den Spielraum, den sie braucht, erhalten kann. Das stimmt mich mit Blick auf die künftigen Herausforderungen zuversichtlich.

Jean-Pierre Bourguignon
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