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«Wir sind auf EU-Projekte geradezu angewiesen»

Adrienne Grêt-Regamey, Professorin für Landschaftsplanung an der ETH Zürich, untersucht, wie sich die Landschaften und mit ihnen die für uns existenziell wichtigen Ökosystemleistungen verändern. Für ihre Forschungen braucht sie Projekte ausserhalb der Schweizer Grenze.

Der Mensch ist ein Homo Faber, ein Planer, Macher und Hersteller. Er macht sich die natürliche Welt, die Milliarden Jahre vor ihm existierte, bewohnbar. Er stellt sich seine eigene Welt her. Der Homo Faber baut Städte, Brücken, Mauern und Strassen, er legt Äcker und Gärten an, schafft Kunstwerke und technische Geräte. Diese Werke, die oft viele Generationen überdauern, haben die Aufgabe, das menschliche Leben zu stabilisieren, Identität und Vertrautheit zu erzeugen. Für die Schaffung seiner «Orte» nutzt und verändert der Homo Faber die Natur: Er nimmt von ihr das Werkmaterial, zum Beispiel Boden, Gestein, Holz, Lehm und Eisen für den Bau von Häusern, Erdöl für die Energiegewinnung, er rodet Wälder für seine Getreidefelder, er kanalisiert Grundwasser zur Gewinnung von Trinkwasser, er schafft sich Orte der Begegnung (Stadtpärke), des Sports (Skilifte und Hallenbäder) oder der Besinnung (Kirchen). Das in den vergangenen rund 200 Jahren stark gewachsene Interesse des Menschen an der Natur und ihren Ressourcen hat diese unter einen enormen Druck gebracht.    

Mit seinem Handeln prägt der Mensch die Landschaft. «Diese Veränderung nimmt der Mensch auch wahr», sagt Adrienne Grêt-Regamey. Die 46-jährige Umweltwissenschaftlerin ist eine Expertin für Landschaftsveränderungen. Sie untersucht mit technisch-visuellen Methoden und Modellen, wie sich Landschaften durch den Menschen in zeitlicher und räumlicher Grössenordnung verändern – wie sie sich in der Vergangenheit verändert haben, wie sie sich in Zukunft verändern könnten, was die Konsequenzen davon sind und wie man diese Veränderungen steuern könnte. 

Die Urbanisierung lässt das Ortsgefühl schwinden

Wir Laien bemerken markante Veränderungen der Landschaft vor allem dann, wenn wir alte und neue Fotografien vergleichen: Darauf sehen wir zum Beispiel, dass Bäume und Wiesen durch Industrie-, Gewerbe- und Einkaufszentren oder Parkplätze ersetzt wurden, dass die einst schlängelnden Bäche und Flüsse nun messerscharf die bewohnte Landschaft durchschneiden, Berghänge mit Seilbahnen, Skiliften und Lawinennetzen und Hügel mit Handyantennen oder Windkraftanlagen bestückt wurden. Vergleichen wir auch alte und neue Fotografien verschiedener Länder, stellen wir fest, dass sich die einst unterschiedlichen vom Menschen bewohnten Landschaften zu gleichen beginnen: Die Bevölkerungszunahme und Verstädterung liessen standardisierte Wohn- und Geschäftsgebiete entstehen, die industrialisierte Landwirtschaft Monokulturen. Die Technisierung und Urbanisierung bedrohe die Landschaftsvielfalt und bringe neue soziale und ökologische Probleme mit sich, sagt Adrienne Grêt-Regamey. So fühlten sich unsere Urgrossmütter und Urgrossväter meist einem Dorf zugehörig, sie kannten die wandelnden Gesichter der Berge in ihrer Umgebung, wussten wann der Fluss anschwillt und zu einer Gefahr wird oder wo der älteste Lindenbaum steht. Heute aber «verlieren die Menschen ihr Ortsbewusstsein», beobachtet die Forscherin. Sie fühlten sich nicht mit der Landschaft verbunden. Dadurch fehle ihnen auch der Bezug zu den sogenannten Ökosystemleistungen. 

Ökosysteme in fragilem Zustand

Die langfristige Bereitstellung von Ökosystemleistungen ist ein zentraler Punkt in den Forschungsarbeiten von Adrienne Grêt-Regamey. Darunter versteht man die Leistungen, welche die Natur (die Ökosysteme) dem Menschen «bereitstellt». Es handelt sich um jene Leistungen der Natur, die für den Menschen nützlich sind; es geht also nicht um den Eigenwert der Natur, sondern um den Wert, den sie für den Menschen hat. Der Wald zum Beispiel bietet dem Menschen Erholung, Holz, Lawinenschutz an, die Leistung der Insekten besteht darin, dass sie Obstbäume bestäuben, Wasser gibt uns Trinkwasser, die Böden bieten sich für den Gemüse- und Getreideanbau oder den Bau eines Hauses darauf an.

Das «Millennium Ecosystem Assessment» der UNO kam im Jahre 2005 zum Schluss, dass sich 60 Prozent der untersuchten Ökosysteme in einem Zustand der Zerstörung befinden. In den vergangenen 50 Jahren seien die Ökosysteme und ihre Dienstleistungen grösseren Gefahren und grösseren Belastungen ausgesetzt gewesen als je zuvor in der menschlichen Geschichte, lautet das alarmierende Fazit der Studie. Es brauche deshalb einen «aktiven und kreativen Landschaftsgestaltungsprozess», um die Ökosystemleistungen langfristig, das heisst auch für die kommenden Generationen, zu sichern und die Entwicklung «widerstandsfähiger Landschaften» zu fördern, erklärt Adrienne Grêt-Regamey. 

Auf EU-Projekte geradezu angewiesen

Dieser Aufgabe hat sich die ETH-Forscherin angenommen, die in den 1980er Jahren Umweltwissenschaften studierte, «weil ich die Welt verbessern wollte». Sie entwickelt mit ihrem 24-köpfigen Team Methoden, Modelle und Werkzeuge, die eine bewusste Landschaftsgestaltung auf der Basis dieser Ökosystemleistungen fördern. Für ihre Forschung seien sie und ihr Team «auf Forschungsprojekte ausserhalb der Schweizer Grenze geradezu angewiesen», sagt Adrienne Grêt-Regamey. 

«Heute verlieren die
Menschen ihr Ortsbewusstsein.»

Sie hat bereits an sieben EU-Projekten teilgenommen «und dies immer gern». Derzeit ist sie im Schlussspurt eines grossen EU-Projekts mit rund 50 Partnern. Das Projekt mit dem Namen «Ecopotential», das nach viereinhalb Jahren im Herbst endet, macht ihr Freude. «Wir hatten erneut die Chance neue, spannende Partnerschaften aufzubauen», sagt sie. Denn auch bei grossen Projekten arbeite man stets in kleineren Gruppen mit ein paar Forscherinnen und Forschern eng zusammen.

EU-Projekte attraktiv für den Nachwuchs

Auch für den Nachwuchs seien die EU-Projekte attraktiv und wichtig. «Sie können hier ihr eigenes Netzwerk aufbauen und erweitern, in der Schweiz ist die Forschergemeinde klein.» Es sei viel einfacher in einem gemeinsamen Projekt, in dem man sich laufend austauschen müsse, internationale Beziehungen aufzubauen als an grossen Kongressen. Ihre Doktorandin habe zum Beispiel in diesem Projekt ihren Co-Referenten gefunden, erzählt Adrienne Grêt-Regamey. Man spürt, dass ihr die Nachwuchswissenschaftler am Herzen liegen und sie ihre Selbständigkeit fördert. Die ETH-Professorin hat ihre an «Ecopotential» beteiligte Doktorandin auch immer wieder alleine an Treffen und Sitzungen geschickt, ihr Verantwortung übergeben: «Das ermöglicht ihr, flügge zu werden.» In den EU-Projekten, in denen es meist um angewandte Forschung geht, lernen die jungen Wissenschaftler zudem die praktische Anwendung von Theorien, sie arbeiten an einem Produkt. «Dank der EU-Projekte bilden wir nicht nur Akademiker aus, sondern auch Wissenschaftler, die Erfahrung in der angewandten Forschung haben.»

Ein Produkt war auch das Ziel von «Ecopotential». Adrienne Grêt-Regamey und ihre Doktorandin haben an der Entwicklung eines Hightech-Instruments zur Sichtbarmachung von Ökosystemleistungen gearbeitet. Mittels Satellitendaten (remote sensing data) werden die vorher bestimmten Leistungen der Natur und die Veränderungen der Landschaft räumlich explizit erfasst. Die Satellitendaten werden dann mit Beobachtungen am Ort ergänzt. Satelliteninformationen können zum Beispiel zur Abgrenzung eines «Waldes» benutzt werden. Der Förster dieses Waldes kann nun die Satelliteninformation mit seinem Wissen über den Zustand oder die Artenvielfalt des Waldes ergänzen. Die Erfassung von oben und von unten soll ermöglichen, Karten mit Landschaftsveränderungen und den damit verbundenen Ökosystemleistungen herzustellen. Sie soll den lokalen Nutzern zeigen, wie es um die verschiedenen Ökosystemleistungen steht, damit sie auf der Basis dieses Wissens handeln können (Landschaftsplanung). «Ziel des Projekts ist, eine für jedermann zugängliche Toolbox anzubieten, mit der die Satellitendaten direkt mit den Beobachtungen vor Ort verknüpft werden können», sagt die Forscherin. Das Werkzeug ist flexibel und kann an die Ökosysteme und Ökosystemleistungen angepasst werden, die man damit untersuchen will. «Ein Doktorand aus Frankreich hat zum Beispiel mit dieser Methode ein Mapping der Walfische im Mittelmeer erstellt.» Adrienne Grêt-Regamey wiederum hat für das Projekt die Ökosystemleistungen des Schweizerischen Nationalparks im Engadin mit jenen des Dischma-Tals in Davos verglichen. 

«Dank der EU-Projekte bilden wir
nicht nur Akademiker aus,
sondern auch Wissenschaftler,
die Erfahrung in der angewandten
Forschung haben.»

Im kaum bewohnten Nationalpark steht zum Beispiel die Ökosystemleistung «Verhinderung von Lawinen» nicht im Vordergrund. Im stärker besiedelten und landwirtschaftlich geprägten Dischma-Tal dagegen ist die Ökosystemleistung des Waldes zum Schutz vor Lawinen von grösster Bedeutung. Die Kartografie mittels Satellitendaten und dem Wissen vor Ort sollen helfen, die Veränderungen des Waldes (zum Beispiel aufgrund des Klimawandels) oder die Veränderung des Bodens (etwa durch Erosion) zu erkennen, damit man entsprechend reagieren kann. Die Toolbox soll dereinst unter anderen von Landschafts- und Stadtplanern, Ökosystem-Managern, Förstern oder landwirtschaftlichen Ämtern genutzt werden können. 

Adrienne Grêt-Regamey ist die Verbindung von Technik (wie Satellitendaten) und lokalem Wissen wichtig. Die Menschen seien Teil der Landschaft und die Landschaft Teil von ihnen. Die Einheimischen wüssten mehr über die Geschichte und über den Zustand ihrer «Orte» als der Satellit, der nicht bewerten, sondern nur erfassen könne. Sie hofft denn auch, dass die Entwicklung dieses operativen Instruments zur gezielten Veränderung der Landschaft mithelfe, bei den Menschen ein Ortsgefühl zu stiften. Man habe sich gerade in urbanen Gegenden in den letzten Jahrzehnten darauf konzentriert, uniformierte Räume zum Wohnen, Arbeiten und Konsumieren zu schaffen. Sie selber habe grosses Glück gehabt, dass sie im Kanton Fribourg in einem «Ort» habe aufwachsen dürfen, der sie mit der Landschaft verwurzeln liess. Adrienne Grêt-Regamey fühlt sich mit den Bergen verbunden, macht gerne Berg- und Skitouren, ist gerne draussen in der Landschaft. Kein Wunder ist ihr die Veränderung der Landschaft eine Herzensangelegenheit. Sie wird heute auch von den politischen Kommissionen für Umwelt, Raumplanung und Energie als Expertin hinzugezogen. Das freue sie, sagt die Professorin für Landschafts- und Umweltplanung. Die politischen Behörden hätten gemerkt, dass es in der Raumplanung nicht nur auf die Quantität ankommt, sondern auch auf die Qualität, dass der Boden zum Beispiel nicht nur Bauland ist, sondern dass er auch Schutz vor Hochwasser bietet oder Biodiversität ermöglicht. Heute wird diskutiert, ob die Bodenqualität beim Bauen ausserhalb der Bauzone berücksichtigt sein sollte.  «An solchen Veränderungen merken wir, dass unsere Gedanken und unsere Forschungsergebnisse doch aufgenommen werden.»

Interview mit Adrienne Grêt-Regamey
Adrienne Grêt-Regamey

ist seit 2014 ordentliche Professorin am Lehrstuhl für Landschafts- und Umweltplanung PLUS am Institut für Raum- und Landschaftsentwicklung der ETH Zürich. Sie arbeitete nach ihrem Studium in Umweltwissenschaften an der ETH Zürich als Beraterin für ein Umweltbüro in den USA. 2003 gewann sie das Marie Heim-Vögtlin-Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds, um am U.S. National Center of Atmospheric Research in der Environmental and Societal Impact Group ihre Dissertation zu schreiben, zu deren Abschluss sie an die ETH Zürich zurückkehrte. In ihrer Forschung konzentriert sich Adrienne Grêt-Regamey auf die Untersuchung von Landschaftsveränderungen durch den Menschen, indem sie unterschiedliche Entscheidungsmodelle zur Landnutzung einsetzt. Um partizipative Landschaftsplanung zu fördern, untersucht sie in einem AudioVisual Lab auch, wie Menschen Landschaften wahrnehmen und darauf emotional reagieren. Dank 3D-Visualisierungen und Simulationen von möglichen Landschaftsveränderungen, die auch Geräusche (zum Beispiel von geplanten Windkraftanlagen) wiedergeben, hat sie neue Instrumente für die politische Entscheidungsfindung entwickelt, die auch die Sinne und Emotionen ansprechen und nicht nur den Verstand. Im Jahre 2017 erhielt die Forscherin einen ERC Starting Grant für ihr Projekt «Globescape».

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