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Wenn Hersteller zur Rettung kommen

In den ersten Monaten der Covid-19-Pandemie stellten viele Unternehmen ihre Fabrikation auf dringend benötigte Produkte um. Im Rahmen des Projekts Eur3ka untersucht Torbjørn Netland, Professor für Produktions- und Betriebsführung an der ETH Zürich, was es braucht, um eine solche Neuausrichtung schnell und effizient umzusetzen: ein Gespräch über Fähigkeiten, neue Wertschöpfungsketten und Philanthropie.

Torbjørn Netland, Sie sind an Eur3ka beteiligt, einem europäischen Forschungsprojekt, das als Reaktion auf die Pandemie gestartet wurde. Wie kam es zustande?

Eur3ka ist ein Projekt, das im Rahmen des EU-Forschungsprogramms Horizon 2020 durch eine spezielle Ausschreibung für Coronavirus-Studien finanziert wird. Im Wesentlichen zielt es darauf ab, Modelle und Basistechnologien zu entwickeln, die eine schnelle Umnutzung von Produktionslinien und Bereitstellung dringend benötigter Produkte für künftige Pandemien ermöglichen. Wir sind 24 Partner, eine Mischung aus Industrieverbänden, Forschungszentren und Universitäten, kleinen und mittleren Unternehmen und globalen Konzernen. In der frühen Phase der Antragsvorbereitung wurde ich von den Koordinatoren kontaktiert, die uns dabeihaben wollten.

Wegen Ihres Fachwissens über die Umnutzung von Produktionslinien?

Vielleicht. Dazu gibt es mehrere Hintergrundgeschichten: Anfangs der Pandemie gab es in allen Ländern eine sprunghaft ansteigende Nachfrage nach Gesundheitsprodukten. Chirurgische Gesichtsmasken zum Beispiel waren überall vergriffen – und die bestellten Masken konnten nicht ausgeliefert werden, weil die Flugzeuge am Boden blieben. Also begannen viele Unternehmen in verwandten Branchen, diese zu produzieren, um auszuhelfen oder eine Geschäftsmöglichkeit zu nutzen. Das Ausmass einer solchen Umnutzung von Produktionslinien war beispiellos.

Und zweitens?

Der Mangel an Beatmungsgeräten. Da Covid-19 eine Atemwegserkrankung ist, stieg der Bedarf an medizinischen Beatmungsgeräten sprunghaft an. Wie bei den Gesichtsmasken wollten auch hier viele Unternehmen Beatmungsgeräte herstellen – und gingen mit diesen Plänen an die Öffentlichkeit. Als Professor für Produktions- und Betriebsführung wusste ich, dass der Welt mit einem anderen Ansatz besser gedient wäre. Also schrieb ich einen Artikel für das Weltwirtschaftsforum mit dem Titel «Eine bessere Antwort auf den Mangel an Beatmungsgeräten». Ich schlug vor, dass wir die bestehenden Versorgungsketten für Beatmungsgeräte beschleunigen und ihre Technologie nutzen sollten, anstatt zu versuchen, etwas Neues zu erfinden. Dieser Artikel erregte viel Aufmerksamkeit und wurde auch vom Eur3ka-Konsortium gelesen.

Auch innerhalb der ETH Zürich gab es Bemühungen, Produkte für das Gesundheitswesen zu produzieren.

Ja, ich war persönlich an einer Initiative von helpfulETH beteiligt – einer Bottom-up-Community-Initiative von ETH-Studierenden und -Mitarbeitenden. Im März 2020 begann helpfulETH mit dem Open-Source-Produktdesign der tschechischen 3D-Druckerfirma Prusa Research, Gesichtsschutzschilde aus dem 3D-Drucker zu produzieren. Ich las von dieser Initiative – und wusste einmal mehr, dass es eine produktivere Möglichkeit gab, sie zu produzieren. Also schloss ich mich helpfulETH an und kontaktierte Hubert Britschgi von Geberit, der die Idee aufnahm und sich bereit erklärte, mit seinen Spritzgussmaschinen Kopfrahmen für Gesichtsschilde in Serie zu produzieren. Innerhalb weniger Wochen entwarf und produzierte Geberit über 12’000 Rahmen. helpfulETH fand auch einen Kunststoffhersteller für die transparenten Schilde, SwissPrimePack.

«Ich schlug vor, dass wir die bestehenden Lieferketten für Beatmungsgeräte beschleunigen und ihre Technologie nutzen sollten, anstatt zu versuchen, etwas Neues zu erfinden. Dieser Artikel erregte einiges an Aufmerksamkeit.»

Das Student Project House der ETH Zürich montierte und verschickte die Schilde, die wir Ärzten, Zahnärzten oder anderen Personen, die sie benötigen, kostenlos zur Verfügung stellten. Es gab viele Hürden bei diesem Projekt, vor allem in rechtlicher Hinsicht, aber wir haben alle viel gelernt und sind stolz auf das, was wir erreicht haben. 

Wer koordiniert Eur3ka?

Es ist das italienische Unternehmen Engineering Ingegneria Informatica S.p.A. In unserem Team ist Wan Ri Ho unsere wichtigste Ressource bei der Datenerhebung, die sie auch für ihr Promotionsprojekt nutzt. Dr. Omid Maghazei ist eine weitere Ressource und Mentor für Wan Ri Ho und ich leite das Projekt und bin für die Ablieferung unserer Arbeiten ans Konsortium verantwortlich.

Für die Datenerhebung haben Sie 45 verschiedene Unternehmen befragt, wie ich gesehen habe. War es leicht, sie zu finden?

Wan Ri Ho: Einige Unternehmen waren zögerlich. Aber diejenigen, die bereit waren, mit uns zu sprechen, wollten wirklich alle ihre Erfahrungen mit uns teilen, um künftigen Organisationen zu helfen. 

Und sie sind über ganz Europa verteilt?

Netland: In unserem Fall ja – aber natürlich haben überall auf der Welt Unternehmen versucht, verschiedene gefragte Produkte herzustellen. Einige versuchten, damit Geld zu verdienen, was gut ist, wenn sie wirklich zur Deckung der Nachfrage beitragen. Andere waren eher altruistisch und sagten: «Wir tun das für einen guten Zweck», und wieder andere gaben zu: «Das ist gute PR» – was nicht zu unterschätzen ist. 

Gab es irgendwelche Überraschungen bei den Unternehmen, die ihre Produktion umnutzten?

Ho: Ja, es ist sehr interessant zu sehen, wie unterschiedlich sie sind. Unternehmen aus verschiedensten Branchen sind auf den Zug aufgesprungen. Das zeigt, dass nicht nur die vorhandenen Produktionsmöglichkeiten für eine solche Umstellung ausschlaggebend sind, sondern auch, ob das Unternehmen reaktionsfähig genug ist, um die Kapazitäten schnell an einen plötzlichen Bedarf anzupassen.

Gibt es ein Unternehmen, das besonders hervorsticht?

Netland: Ich denke, unser italienischer Partner SEACSUB SPA könnte als gutes Beispiel dienen, denn er war sehr früh dabei, weil er den ersten grossen Covid-19-Ausbruch in Europa in Norditalien erlebte. SEACSUB stellt u.a. Vollgesichts-Schnorchelmasken her. Dieses Produkt und dessen Produktionslinie wurden für die Herstellung von Atemschutzmasken umfunktioniert, die mit den Beatmungsgeräten der Spitäler kompatibel sind. Andere Unternehmen waren weniger erfolgreich. Was genau den Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg ausmachte, untersuchen wir jetzt. 

Sie untersuchen die internen und externen Faktoren im Prozess der Neuausrichtung. Sind die internen Faktoren wichtiger?

Nein! Es ist unmöglich, die Produktion allein umzustellen, es sei denn, man ist bereits ein Hersteller von Beatmungsgeräten – und selbst dann ist man auf Zulieferer angewiesen. Das wirklich Einzigartige an diesem Prozess ist die gegenseitige Abhängigkeit vieler Akteure und Interessengruppen. Wir nennen es «offene Innovation», d. h. die aktive Nutzung der Aussenwelt, um Innovationen hervorzubringen. Und es sind viele beteiligt: Die Regierung zum Beispiel ist sehr wichtig, ebenso die Open-Source-Designs von Unternehmen. Alles muss zusammenkommen, um einen Erfolg zu erzielen. 

Omid Maghazei: Je komplexer ein Produkt ist, desto mehr Mitarbeitende braucht es. Das wurde im Fall der Beatmungsgeräte sehr deutlich.

Netland: Ja, das ist ein wichtiger Punkt. Bei der Herstellung von Handdesinfektionsmitteln waren viele Unternehmen sehr erfolgreich: Brennereien konnten problemlos Desinfektionsflüssigkeiten herstellen, oder Brauereien wie BrewDog im Vereinigten Königreich. Nicht viele machten weiter, weil es auf Dauer kein rentables Geschäft war. Aber es war gut für sie, in der Öffentlichkeit Anerkennung dafür zu bekommen, und natürlich half es in einer kritischen Phase der Pandemie. Wir untersuchen, warum sie in der Lage waren, schneller als andere zu reagieren und die Gelegenheit zu ergreifen.

«Das wirklich Einzigartige an diesem Prozess ist die gegenseitige Abhängigkeit vieler Akteure und Interessengruppen.»
Ist das nicht etwas, das sehr stark von der persönlichen Initiative abhängt?

Ja, man braucht Menschen, die für diese Art von Dingen brennen. Aber ein solches Projekt kann nicht allein von der Initiative einer Person getragen werden.

Und wie wichtig sind die Bemühungen der Gemeinschaft?

Ho: Bei den Gesichtsschutzschilden zum Beispiel waren sie sehr wichtig. Während des Lockdowns setzten die Menschen die Schilde zu Hause zusammen. Und wo Mangel an Rohstoffen herrschte, funktionierte die Gemeinschaft als Netzwerk, um die Produkte zu beschaffen und an die Unternehmen zu liefern, die sie benötigten.

Hat Sie die Rolle der Philanthropie bei solchen Aktionen überrascht?

Netland: Bis zu einem gewissen Grad, ja. Der Anteil der Unternehmen, die sich engagieren, um mehr Geld zu verdienen, ist viel geringer, als ich ursprünglich dachte. Viele Unternehmen sind mit dem Wunsch in die Umnutzung eingestiegen, tatsächlich zu helfen. Wie die Geberit. Sie hat viel Zeit und Geld investiert, um das benötigte Spritzgusswerkzeug zu entwickeln und Gesichtsschutzschilde zu produzieren.

Sie befinden sich jetzt in der Mitte der zweijährigen Studie und haben erste Ergebnisse. Was sind die interessantesten Erkenntnisse?

Ho: Es war interessant zu sehen, wie diese grossen internationalen Unternehmen zusammenkamen. Sie legten all ihre Differenzen und auch ihre Hierarchien beiseite. Alle waren offen, das Problem zu lösen. 

Wie sieht es mit bestimmten Organisationsstrukturen aus, die die Dinge verlangsamen können?

Netland: Das war für mich kein ernsthaftes Problem.

Maghazei: Es hat mit dem Element des Vertrauens zu tun. Als diese Unternehmen zusammenkamen, um Beatmungsgeräte zu bauen, vertrauten sie auf die Kernkompetenzen der verschiedenen Akteure.

«Wenn Menschen zusammenarbeiten, um ein höheres Ziel zu erreichen, gibt es viel weniger Konflikte, weil ihnen das, was sie tun, wirklich am Herzen liegt.»

Netland: Wir nennen es zweckorientierte Organisation. Wenn Menschen zusammenarbeiten, um ein höheres Ziel zu erreichen, gibt es viel weniger Konflikte, weil ihnen das, was sie tun, wirklich am Herzen liegt. Aber diese Initiativen sind auch ein bisschen wie Luftballons: Irgendwann muss das Projekt wirtschaftlich sein. Wenn das nicht der Fall ist, wird es schnell eingehen. Viele der von uns untersuchten Unternehmen haben ihre Projekte eingestellt. Nur einige wenige haben während der Pandemie ein neues Produkt entwickelt, das sie immer noch herstellen.

Was sind jetzt Ihre nächsten Schritte?

Eur3ka hat ein sehr ehrgeiziges Ziel, das nur schwer zu erreichen ist. Die Idee ist, eine digitale Plattform zu schaffen, die es der EU ermöglicht, in einer künftigen Krise wie einer Pandemie schneller zu reagieren, um die Nachfrage nach benötigten Produkten zu decken. Unser Beitrag sind Informationen darüber, wie Herstellerfirmen in der Lage sind, die Produktion schneller und besser umzustellen – ein kleines, aber wichtiges Teil in diesem grossen Puzzle.

Wir befassen uns nun mit den komplexen Produkten, den Beatmungsgeräten. Die Erkenntnisse, die wir aus diesem Produkt gewinnen, werden uns helfen, Unternehmen und Regierungen zu beraten, wie sie die Umnutzung in Zukunft verbessern können.

Interview mit Torbjørn Netland (in englisch)
Torbjørn Netland

Torbjørn Netland kam 2016 als Assistenzprofessor für Produktions- und Betriebsführung (Production and Operations Management; POM) an die ETH Zürich. Die Gruppe am Departement für Management, Technologie und Ökonomie legt ihren Schwerpunkt auf Intelligente Fertigung, Verhaltensoperationen, Globale Produktion und Operative Exzellenz. Netland führt seine Forschung in enger Zusammenarbeit mit Unternehmen durch. Er wurde 1980 in Norwegen geboren und studierte Wirtschaftsingenieurwesen an der Norwegischen Universität für Wissenschaft und Technologie (NTNU), Trondheim. Er ist Mitglied des Global Future Council on Advanced Manufacturing and Value Chains des Weltwirtschaftsforums und Fellow der European Academy of Industrial Management. Netland ist verheiratet und Vater von drei kleinen Kindern.

Horizon 2020 Projekt

Eur3ka: EUropean Vital Medical Supplies and Equipment Resilient and Reliable Repurposing Manufacturing as a Service Network for Fast Pandemic Reaction

  • Projektart: Kollaboratives Projekt (24 Partner)
  • Laufzeit: 1. Dezember 2020 – 30. November 2022
    (24 Monate)
  • Beitrag für die ETH Zürich: 207’500 €

www.eur3ka.eu

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