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Die Resistenzentwicklung umdrehen

Wie mit einem radikalen Ansatz die Zunahme antibiotikaresistenter Krankheitserreger in Europa gebremst werden soll und ob dies gelingen kann. Ein Gespräch mit Walter Zingg, Leiter der Spitalhygiene des Universitätsspitals Zürich.       

«Wir sehen, dass sich vor allem in Ländern Süd- und Südosteuropas die Entwicklung der Antibiotikaresistenz in den letzten Jahren verschlechtert hat und in den Spitälern dort wenig dagegen gemacht wird», erzählt uns Walter Zingg, als wir ihn in seinem Büro am Rande des Hochschulquartiers zum Interview treffen. Der Infektiologe und Leiter der Spitalhygiene des Universitätsspitals Zürich kennt das Problem aus eigener Anschauung. Im Auftrag der ECDC[1] nimmt er regelmässig an Länderbesuchen teil und evaluiert die Antibiotikaresistenz-Situation und die Infektionsprävention in den Spitälern. Vor allem Intensivstationen, in denen täglich Hunderte von Menschen behandelt werden, sind Hotspots der Resistenzentwicklung. Multiresistente Bakterien verbreiten sich in und über die Spitäler hinaus in die Bevölkerung, wenn die Kliniken dem nicht mit rigorosen spitalhygienischen Massnahmen entgegenwirken. Aber den Spitälern im Süden und Osten Europas fehlen oft die Mittel, das Knowhow, die Infrastruktur und auch das Bewusstsein, um eine wirkungsvolle Spitalhygiene und den gezielten Einsatz von Antibiotika durchzusetzen. 

«Die Idee ist,
dass die Spitäler
in den vier Jahren
des Projekts
einen Kulturwandel
vollziehen.»

Die Schweiz sei noch eine Art Insel, aber mit jeder repatriierten Person, die aus einem Land mit hoher Prävalenz in ein Schweizer Spital eingeliefert werde, steige der Druck, dass multiresistente Bakterien auch bei uns häufiger werden, schildert Walter Zingg die Situation. «Wir kontrollieren diese Patienten bei Eintritt, sorgen dafür, dass es nicht zu Ansteckungen kommt, und das gelingt uns ganz gut.» Doch ihm und seinen Kolleginnen und Kollegen aus der Schweizer Spitalhygiene-Community war schon lange klar, dass in Ländern mit hoher Antibiotikaresistenz etwas geschehen muss. «Die Idee, in Hochprävalenzländern eine grosse klinische Studie zur Antibiotikaresistenz durchzuführen, die umfassende Interventionen in Spitalhygiene und in den Umgang mit Antibiotika beinhaltet, hat uns schon seit längerer Zeit umgetrieben. Das Problem war die Finanzierung», erzählt Walter Zingg. 

Doch dann bot sich 2020 unerwartet eine Chance. Im Rahmen von Horizon 2020 publizierte die Europäische Kommission einen Call, Projekte zu neuen Ansätzen im klinischen Management und der Prävention von resistenten bakteriellen Infektionen in Hochprävalenzgebieten einzureichen. Walter Zingg und seine Kolleginnen und Kollegen zögerten nicht. In kürzester Zeit stellten sie ein Konsortium von Fachleuten aus zwölf europäischen Universitätskliniken, Forschungseinrichtungen und Gesundheitsdiensten sowie 24 assoziierten Spitälern auf die Beine, schrieben einen Projektantrag und erhielten den Zuschlag. Im Juli 2021 startete das Projekt mit dem programmatischen Titel REVERSE. 

Ambitiöses Ziel

«Letztlich geht es darum, durch umfassende Interventionen die Resistenzentwicklung in 24 Spitälern von Hochprävalenzgebieten umzukehren oder zumindest zu stabilisieren», umschreibt Walter Zingg kurz und bündig das Ziel von REVERSE. Dazu haben er und sein Team eine ausgeklügelte Projektstruktur entwickelt, die Wissenstransfer, Verhaltensänderungen und Erkenntnisgewinn geschickt verbindet. Das Kernstück bilden Interventionen in drei Schlüsselbereichen zeitgemässer Spitalhygiene: Diagnostik, Infektionsprävention und gezielten Einsatz von Antibiotika (Antibiotika-Stewardship). Konkret laufen diese Interventionen so ab: In je sechs ausgewählten Spitälern in Spanien, Italien, Griechenland und Rumänien werden Abläufe, Prozesse und Verhaltensregeln zur Prävention und dem Management von Infektionen implementiert, die dem neusten Wissens- und Erfahrungsstand entsprechen. Die mitwirkenden Spitäler erhalten aber nicht einfach ein Manual von Massnahmen und ein paar Instruktionen zur Implementierung. Sie müssen selbst Strategien und Konzepte entwickeln, wie sie die State-of-the Art-Massnahmen und -Prozesse, massgeschneidert entlang ihrer Möglichkeiten und Bedürfnisse, umsetzen. Unterstützt werden sie dabei von interdisziplinären Teams aus dem Projektkonsortium. 

Eine zentrale Rolle in diesem Konzept spielen die Fachleute aus der Implementierungswissenschaft. Sie begleiten die Spitäler während der gesamten Projektphase und beobachten, beraten und coachen sie. «Die Idee dieser umfassenden Interventions-Unterstützung ist, dass die Spitäler in den vier Jahren des Projekts einen Kulturwandel vollziehen. Es müsste eine Veränderung der Betriebskultur erfolgen. Das hätte dann auch einen nachhaltigen Effekt. Wir wollen auch, dass die Spitäler, die teilnehmen, später ein Netzwerk bilden und diese Interventionen in ihren Ländern weiterführen», schildert Walter Zingg die Überlegungen, die hinter dem Konzept der Interventionen stehen. Die begleiteten Interventionen sind aber nur der eine Teil des Projekts. Im anderen Teil geht es darum, herauszufinden, ob sie auch greifen und in welchem Mass sich die Infektionssituation und damit auch die Resistenzentwicklung in den Spitälern verbessert. Dazu führt das Projektteam von REVERSE in den 24 Spitälern eine randomisierte, gestaffelte klinische Studie durch.

Anspruchsvolle Umsetzung

Die 24 Spitäler, je sechs in Griechenland, Italien, Rumänien und Spanien, wurden nach dem Zufallsprinzip auf vier Gruppen (Kohorten) aufgeteilt. Jede Gruppe umfasst sechs Spitäler, mit mindestens einem Spital aus jedem Land. Jede dieser vier Gruppen durchläuft die drei Interventionsschritte in einer zeitlich gestaffelten Reihenfolge. Den Anfang machte im Herbst 2022 die Gruppe 1 mit der Intervention im Bereich Diagnostik. Drei Monate später, im Januar 2023, begann die Gruppe 2 mit der Intervention in den Bereich Diagnostik, im Dreimonatsabstand gefolgt von der Gruppen 3 und 4. Sobald eine Gruppe eine Interventionsphase abgeschlossen hat, beginnt sie mit der nächsten. So hat Gruppe 1 ihre Diagnose-Intervention im März 2023 beendet und ist in die Intervention im Bereich Infektionsprävention gestartet. Im Frühling 2024 wird Gruppe 1 dann die dritte und letzte Intervention im Bereich Antibiotika-Stewardship in Angriff nehmen, während die Gruppen 2, 3 und 4 zu diesem Zeitpunkt noch in unterschiedlichen Abschnitten der Intervention Infektionsprävention unterwegs sein werden. Alle vier Gruppen durchlaufen dasselbe Programm in der gleichen Reihenfolge; randomisiert wird lediglich der Zeitpunkt, wann die Interventionen beginnen. Gleichzeitig erheben alle Spitäler Daten zur Infektionslage. Daraus lässt sich später ersehen, ob sich die Infektionssituation nach den Interventionen verbessert hat. Einige Monate vor Beginn werden die Gruppen auf die jeweilige Intervention vorbereitet und müssen der Projektleitung Daten und Informationen liefern, die für den betreffenden Interventionsbereich relevant und für die spätere Evaluation wichtig sind. Im Bereich Prävention erheben die Kliniken vor dem Start und am Ende der Intervention aktuelle Informationen zur Organisation der Infektionsprävention in ihrem Spital und speisen diese in die Projektdatenbank ein. 

Die Interventionsphasen beginnen für jede der vier Gruppen mit einer Kick-off-Veranstaltung. Für den Bereich Diagnostik und Antibiotika-Stewardship geschah dies über Zoom. Für den Bereich Infektionsprävention führt die Projektleitung einen mehrtägigen Workshop durch, bei dem sich die Vertreterinnen und Vertreter der Kliniken persönlich treffen, Informationen erhalten und sich austauschen. 

«Ohne das
EU-Forschungsprogramm
Horizon 2020 wäre
REVERESE wohl
nie zustande
gekommen.» 

Danach machen sie sich daran, Konzepte zu entwickeln, wie sich Infektionspräventionsmassnahmen wie Händehygiene in ihrer Klinik wirkungsvoll realisieren lassen und setzen diese um. Fachleute aus dem Projektteam unterstützen und beraten sie dabei. Selbstverständlich werden die Massnahmen auch nach dem Abschluss der Intervention weitergeführt. Sie sollen Teil des Spitalalltags werden. Ob dies tatsächlich geschieht, zeigt sich am Ende des Projekts, wenn alle vier Gruppen alle drei Interventionen durchlaufen haben. 

Offenes Ergebnis 

REVERSE ist mit zwölf Partnerorganisationen, 24 Spitälern in vier Ländern, rund 100 Mitwirkenden und einer Matrixstruktur von Testkliniken und Fachgruppen ein höchst komplexes Projekt. Dass es möglichst reibungslos läuft, darum kümmern sich die Projektmanagerinnen Ashlesha Sonpar und Jessie Zheng – und dies sehr erfolgreich. Projektleiter Walter Zingg bringt die Leistung seiner beiden Projektmanagerinnen auf den Punkt: «Ash und Jessie machen einen Superjob. Sie sorgen dafür, dass die Spitäler dranbleiben, dass der Austausch unter allen Projektbeteiligten funktioniert und nicht plötzlich irgendwer irgendetwas macht, sondern alle aufeinander abgestimmt arbeiten, und dass man das auch abholt und einfordert.» 

In zweieinhalb Jahren endet REVERSE. Was muss bis dann erfüllt sein, damit das Projekt erfolgreich abschliesst, fragen wir Walter Zingg: «Aus der Perspektive des Koordinators bin ich froh, wenn ich sehe, dass die Spitäler alle Daten eingetragen haben, sodass wir einen kompletten Datensatz haben, der sich statistisch auswerten lässt. Dann können wir eine wissenschaftlich fundierte Aussage darüber machen, ob es möglich ist, mit umfassenden Interventionen in Spitälern mit hoher Prävalenz die Resistenzsituation zu verbessern. Unsere Studie ist ergebnisoffen. Natürlich würden wir der Europäischen Kommission gerne sagen können: Ja, es ist möglich. Aber ihr müsst dazu sehr viel Geld in die Hand nehmen. Vielleicht müssen wir der Kommission aber auch sagen, dass es nicht möglich ist, weil die Spitäler überfordert sind. Je nachdem, was das Ergebnis von REVERSE sein wird: Am Ende muss die Politik die Schlussfolgerungen daraus ziehen.»

 


[1] ECDC: «European Centre for Disease Prevention and Control» ist eine Agentur für öffentliche Gesundheit der EU. 

Engagiert für REVERSE

Seraina Munton von EU GrantsAccess betreut REVERSE seit Beginn des Projekts. – Wir haben mit ihr über ihre Rolle und ihre Erfahrungen gesprochen.  

Wie haben Sie das Team von REVERSE beim Start unterstützt? 

Walter Zingg hat das Projekt an der Universität Genf eingereicht, kurz bevor er ans Universitätsspital Zürich wechselte. Das Projekt war bewilligt, befand sich aber noch in der Grant Agreement-Verhandlungsphase, in der die Verträge zwischen den Projektpartnern und der Kommission verhandelt und abgeschlossen werden. Als erstes haben wir den Transfer des Projekts von Genf nach Zürich vollzogen und geschaut, wie wir es in die Verwaltungsstruktur der Universität Zürich einfügen. Zeitgleich haben wir begonnen, die Vertragsabschlüsse mit den Projektpartnern zu koordinieren. Das macht sonst der Projektmanager, aber der war zu diesem Zeitpunkt noch nicht da. Also haben wir dafür geschaut, dass alle zwölf Projektpartner und die 24 assoziierten Spitäler ihre Daten rechtzeitig und korrekt einfüllten. Das war mit den Spitälern rechtlich nicht ganz einfach, weil es unterschiedliche Stufen von Partnerschaften gab. Zum Teil waren sie affiliiert mit Projektpartnern, zum Teil nicht. Aber schliesslich haben wir alle Partner soweit gebracht, dass die Verträge sowohl untereinander als auch mit der Kommission abgeschlossen werden konnten. Nach dem Start haben wir REVERSE dann noch einige Monate administrativ gemanagt, bis die Stelle des Projektmanagements besetzt war.   

Wie begleiten Sie REVERSE heute? 

Im normalen Rahmen unserer Dienstleistungen. Ich unterstütze das Projektmanagement beim Reporting an die Kommission und bei weiteren administrativen, finanziellen oder institutionellen Fragen. Wir wirken als eine Art Drehscheibe zur Kommission und begleiten das Projekt während der ganzen Laufzeit bis zum Abschluss.

Was bedeutet Ihnen REVERSE persönlich? 

Es ist ein Projekt, das mir sehr am Herzen liegt, weil ich so viel da reingegeben habe. Eine Zeitlang habe ich etwa 30% meiner Arbeitszeit für REVERSE aufgewendet. Aber ich habe auf vielen Ebenen auch sehr viel gelernt, was mir bei meiner weiteren Arbeit zugutekommt. Und ich finde es sehr schön, zu sehen, was die EU bewirken kann. Ohne ihr Forschungsprogramm wäre REVERESE wohl nie zustande gekommen.

Interview mit Walter Zingg
Walter Zingg

Walter Zingg ist seit November 2020 leitender Arzt an der Klinik für Infektionskrankheiten und Leiter der Spitalhygiene des Universitätsspitals Zürich. Nach dem Abschluss des Medizinstudiums an der Universität Zürich arbeitete er einige Jahre in der molekularbiologischen Forschung und als Kinderarzt am Kinderspital Zürich. Ab 2001 spezialisierte sich Walter Zingg auf Infektionskrankheiten und war bis 2004 zuerst als Assistenzarzt und später als Oberarzt für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene am Universitätsspital Zürich tätig. 2007 ging er ans Universitätsspital Genf, wo er bis zu seinem Wechsel nach Zürich zuerst als Oberarzt und ab 2014 als leitender Arzt für Spitalhygiene und Infektionsprävention wirkte.

Horizon 2020 Projekt

REVERSE: pREVention and management tools for rEducing antibiotic Resistance in high prevalence Settings

  • Projektart: Kollaboratives Projekt mit 11 Partnern
  • Laufzeit: 1. Juli 2021 – 31. Dezember 2025 (54 Monate)
  • Beitrag für die Universität Zürich (Koordination): 3‘521‘526 €

www.reverseproject.eu

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