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Die Kraft der Daten und wie sich Forschung auf die Politik auswirkt

Wie können Finanzkrisen verhindert werden? Welche Politik und welche Strategien braucht es für den optimalen Umgang mit Finanzinstituten und auch Finanzkrisen? Der Professor für Bankwesen Steven Ongena erforscht diese globalen Fragen – auch mit Unterstützung des ERC. Ein Blick in ein komplexes, aber auch sehr praxisnahes Fachgebiet.

Das Büro gleicht einem Gewächshaus. Der grosse, auf einer Seite mit raumhohem Fenster versehene Raum beherbergt an die 30 Pflanzentöpfe in allen Grössen. Sie umranden den Schreibtisch, reihen sich neben dem Büchergestell auf, zieren den Kaffeetisch – und alle Pflanzen sind in bestem Zustand. Auf das Grün angesprochen, lacht der Professor und verweist auf eine einstige Mitarbeiterin, die noch viel mehr Pflanzen gehegt hätte in ihrem Büro.

Das Institut für Banking und Finance der Universität Zürich befindet sich in einem lichtdurchfluteten, luftigen Neubau. Eine grosse Lounge mit Teeküche, einem verglasten Sitzungszimmer und einer Sitzecke mit Fauteuils verbindet die Einzelbüros, deren Türen fast durchwegs offenstehen. Es herrscht eine freundliche, ja familiäre Atmosphäre in einem eingespielten Team.

Steven Ongena und seine Mitarbeitenden erforschen insbesondere drei Phänomene der Finanzwelt: die Finanzinnovationen der Finanzinstitute, speziell die Verbriefung von Bankkrediten und die Ausgabe von Minibonds, die weit verbreitete Risikobereitschaft der Finanzinstitute und die Informationsasymmetrien, mit denen sie bei der Vergabe von Hypothekarkrediten konfrontiert sind sowie der hohe Verschuldungsgrad der Finanzinstitute und die entsprechend niedrigen Eigenkapitalquoten. 

«Die Verbindung
zur realen Welt ist
recht eng.»

Ziel ist es, die Auswirkungen jedes einzelnen Faktors auf das Kreditwachstum zu untersuchen und dann entsprechende Empfehlungen für die Politik zu formulieren, wie die Auswirkungen künftiger Finanzkrisen gemildert werden könnten. Oder wie es Steven Ongena formuliert: «Wir analysieren Faktoren, sammeln Beweise und veröffentlichen unsere Ergebnisse, um den Wissenstransfer zu ermöglichen, zu informieren, aufzuklären und Entscheidungsträger bei ihrer Arbeit zu unterstützen.»

Innovation ist Risiko

Ist einer der Bereiche wichtiger als der andere? Der Bankenexperte verneint. All diese Elemente seien wichtig, doch Innovation sei immer gefährlich: «Wenn es sich um ein normales Geschäft handelt, sollte man meinen, dass alle beteiligten Akteure in der Lage sind, die Risiken zu überblicken, und dass auch die Aufsichtsbehörden selbst in der Lage sind, das eingegangene Risiko abzuschätzen. Aber wenn es sich um Finanzinnovationen handelt, gibt es dieses zusätzliche Risiko.»

Branchenfremde lernen: Innovation ist nicht a priori etwas Positives. Steven Ongena vergleicht die Finanzbranche in diesem Zusammenhang mit der pharmazeutischen Industrie. Auch da gäbe es bei der Produktion ein Risiko und ein ganzes Verfahren. «Bis zu einem gewissen Grad haben sich die Finanzaufsichtsbehörden von den Verfahren anderer Länder inspirieren lassen, in denen pharmazeutische Entwicklungen und Innovationen sehr sorgfältig geprüft werden. Sie müssen eine Zertifizierung beantragen», erklärt er. Im Finanzbereich hätten die Aufsichtsbehörden oft darüber nachgedacht, ebensolche Verfahren einzuführen.

Über die Bankkredite möchten wir als Bankkunden und -kundinnen doch etwas mehr wissen. Der Professor erläutert den Bereich anhand der Geschichte der Minibonds: Während der Finanzkrise bekamen vor allem in Europa kleinere Unternehmen keinen Zugang mehr zu Bankkrediten. Grund dafür war, dass der Bankensektor unter Stress stand. 

«Wenn es sich
um Finanzinnovationen
handelt, gibt es
zusätzliches Risiko.»

Da entstand die Idee eines so genannten Ersatzreifens im Finanzsystem, durch den mittelständische Unternehmen Zugang zu anderen Bereichen des Finanzsektors, insbesondere zum Anleihemarkt, erhalten könnten. Der Ersatzreifen waren die Mini-Anleihen. Um sie zu kreieren, wurden einige der Anforderungen für die Ausgabe von Anleihen gesenkt und so den mittelständischen Unternehmen in Italien, Deutschland und anderen Ländern der Zugang zu diesem Mini-Bond-Markt ermöglicht – mit grossem Erfolg.

Milliarden von Daten

Steven Ongena und sein Team erforschen die Bankenwelt empirisch anhand von verschiedenen Datenbanken. Eine der wichtigsten ist AnaCredit der Europäischen Zentralbank. Der Name steht für Analytical Credit Datasets. Sie wurde 2011 kreiert und enthält alle Kredite aus 15 Ländern, die von allen Institutionen an alle Unternehmen vergeben werden.

Daten auf Mikroebene enthält die Datenbank der EMIR (European Market Infrastructure Regulation). Darin werden alle Transaktionen zwischen den grössten Institutionen gesammelt, insgesamt Milliarden von Informationen. Auch sie wurde aufgrund der letzten Finanzkrise geschaffen. «Aus systemischer Sicht war man der Meinung, dass diese Datenbanken hilfreich sein könnten. Jetzt bemühen sich Dutzende von Menschen um diese Daten und versuchen, sie zu organisieren», erklärt der Forscher. Eine weitere Datenquelle ist das European Data Warehouse, wo alle Wertpapiere dokumentiert sind mitsamt ihren zugrunde liegenden Krediten. «Mit den Informationen zu den einzelnen Krediten kann man gute Wertpapiere erstellen, die dann an Investoren verkauft werden können. Diese Verbriefung ist also eine weitere Möglichkeit, die Finanzierungsmöglichkeiten für Finanzinstitute, für Banken, zu erweitern», so Steven Ongena.

Die Banken können die Transaktionsregister nutzen, um zu sehen, ob ein Kunde oder eine Kundin eine oder mehrere ausstehende Leistungen für andere Kredite hat und wie hoch diese sind. Die Forschenden können Zugang zu den Datenbanken beantragen. «Man verbringt viel Zeit mit der Beantragung, aber wenn man einmal einen Vertrag hat, muss man ihn nicht mehr jedes Mal neu einreichen», erläutert der Wissenschaftler. Es komme aber auch ein bisschen auf das Projekt an: «Gerade wenn es um Haushalte geht, sind die Anforderungen zu Recht sehr hoch. Dann muss man gezielt einen Vertrag für einen bestimmten Zugang abschliessen.» 

Kontinuierliche Arbeit

Insgesamt arbeitet Ongenas Team mit über einem Dutzend solcher Datenbanken, je nach Forschungsthema mit einer oder mehrerer. Und es gibt deren viele – unabhängig vom finanziellen Beitrag des ERC. Natürlich sei diese Auszeichnung ein Moment, in dem man Geld und Wertschätzung bekomme, erklärt der langjährige Teamleiter dazu. Aber abgesehen davon gebe es eine fortlaufende Forschungsagenda und jedes der einzelnen Projekte werde durch spezifische Fragen, durch die Verfügbarkeit bestimmter Daten ausgelöst. «In dem Bereich, in dem ich arbeite, ist es nicht so, dass wir sagen, jetzt bekommen wir Geld und jetzt fangen wir ein Projekt an. Es ist ein kontinuierlicher Prozess und ich mache das schon seit vielen Jahrzehnten», erklärt er. Und er vergleicht sein Gebiet einmal mehr mit der Pharmazie: «Empirisches Banking sind viele verschiedene Projekte, natürlich sind alle miteinander verbunden und auf eine bestimmte Bewertung ausgerichtet. Aber es ist nicht so, dass man sagt: ‚Jetzt werden wir ein neues Medikament entdecken‘, so funktioniert das nicht.» 

Eine Gemeinsamkeit gibt es aber doch mit der pharmazeutischen Industrie: «Die Verbindung zur realen Welt ist recht eng», meint Ongena, «wie da, wo die Leute direkt an der Entwicklung von Medikamenten forschen.» Denn neben der akademischen Gemeinschaft gibt es ein grosses Publikum von politischen Entscheidungsträgern, welche die Forschungsergebnisse ebenfalls lesen und weiterverbreiten. Er sei manchmal fast überwältigt von der Masse der Reaktionen, die seine Forschungsresultate in der politischen Gemeinschaft auslösen, meint der Professor. Man setze sich ständig damit auseinander, und das aus gutem Grund: «Die Leute müssen wissen, was die Konsequenzen sind, wenn sie über eine Politik nachdenken.»

Viele verschiedene Forschungsprojekte

Für die Mitarbeitenden führte der ERC-Beitrag indes zu einem Karrieresprung. Emilia Garcia-Appendini etwa, bislang Senior Researcher, organisierte ein Seminar, wodurch sich das Netzwerk aller Beteiligten vergrösserte, und sie lernte dadurch die Norwegische Zentralbank kennen, die sich für ihre Forschung interessierte und sie nun einstellte. Sie forscht vor allem über Unternehmensfinanzierung, also wie Unternehmen auf finanzielle Notlagen reagieren, die Rolle der Kultur bei Kreditentscheidungen sowie über Klima und Finanzen.

Der ehemalige Doktorand Gazi Kabas beschäftigt sich mit Haushaltsfinanzen und Bankwesen und den Wechselwirkungen zwischen diesen Bereichen. Er ist jetzt Assistenzprofessor in Tilburg, Holland. Olga Briukhova wurde der letzte Teil ihrer Doktoratsarbeit durch den ERC-Beitrag finanziert. Sie untersuchte die Auswirkungen der Eigenkapitalanforderungen für Banken auf die Kreditvergabe in Deutschland. Ihre Karriere wird sie in der Privatwirtschaft in einer Beratungsfirma hier in Zürich fortsetzen. «Der ERC hat mir geholfen, meine Doktorarbeit abzuschliessen», erklärt sie.

Und auch die Doktoratsarbeit von Mrinal Mishra wurde grösstenteils durch die Unterstützung des ERC finanziert. Er befasste sich mit dem Zugang zu Krediten in Entwicklungsländern und schwierigen Umständen wie in einem politischen Konflikt. Jetzt wechselt er als Postdoktorand bald an die University of Melbourne. Er forscht über die Auswirkungen von Narrativen in sozialen Medien auf das Unternehmertum. 

Der Professor selber nennt als laufende Arbeit Untersuchungen über nachhaltiges Bankwesen, also über Klima- und physische Risiken, über die Kreditvergabe der Banken als Folge von klimapolitischen Entscheidungen. Enger könnte die Verbindung zur realen Welt nicht sein.

Interview mit Steven Ongena (in Englisch)
Steven Ongena

Steven Ongena ist seit 2013 Professor für Bankwesen am Institut für Banking und Finance der Universität Zürich, Seniorprofessor am Swiss Finance Institute, Forschungsprofessor an der KU Leuven, Forschungsprofessor an der Norwegian University of Science and Technology NTNU Business School und Research Fellow in Financial Economics des Centre for Economic Policy Research CEPR in London. Ausserdem ist er Forschungsprofessor bei der Deutschen Bundesbank und regelmässiger Forschungsgast bei der Europäischen Zentralbank. Er stammt aus Belgien und studierte 1988 an der University von Alberta in Edmonton, Kanada, doktorierte bis 1995 an der University of Oregon, USA, und war an der CentER-Tilburg University in Holland und der BI Norwegian Business School tätig, bevor er nach Zürich berufen wurde.

Emilia Garcia-Appendini
Olga Briukhova
Mrinal Mishra
Gazi Kabas
Horizon 2020 Projekt

lending: Drivers of Growth in Bank Lending and Financial Crises

  • Projektart: ERC Advanced Grant
  • Laufzeit: 1. September 2017 – 31. August 2022 (60 Monate)
  • Beitrag für die Universität Zürich: 2‘103‘440 €
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