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Von Schutt, wachsenden Gletschern und den Farben des Wassers

Vor fünf Jahren kam die Spezialistin für Hochgebirgsgletscher Francesca Pellicciotti mit einem ERC Consolidator Grant an die WSL in Birmensdorf. Heute, kurz vor Abschluss des ERC-Projekts, koordiniert sie bereits zwei weitere Grossprojekte – und ist Professorin für Kryosphäre und Gebirgshydrosphäre in Österreich: ein Besuch am Institute of Science and Technology Austria ISTA in Klosterneuburg.

Das Moonstone Building genannte Gebäude ist brandneu. Der hängende Garten, eine Mooswand, die sich in einem Innenhof über alle vier Etagen zieht, verströmt immer noch einen leichten Geruch von Moor. Am besten ist sie vom Pausenraum im dritten Stock zu bewundern. Da offerieren Catriona Fyffe und Thomas Shaw uns einen Kaffee. Sie sind zwei der insgesamt sechs Postdoktorierenden in Francesca Pellicciottis Gruppe. Beide sind ihr in den letzten Monaten hierher gefolgt, er von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL in Birmensdorf, sie von der Northumbria University im Vereinigten Königreich – und beide sind Marie Skłodowska-Curie Fellows.

Der Campus des ISTA liegt weit draussen im Grünen, am äussersten Rand von Klosterneuburg nördlich von Wien. Ob ihnen der Umzug hierher leichtgefallen ist, wollen wir wissen. Thomas lacht: «Ich hatte schon einen Kulturschock, als ich nach Birmensdorf kam», erklärt er. Er war zuvor drei Jahre als Postdoktorand an der Universidad de Chile in Santiago de Chile tätig. Auch Zürich mit 400 000 Einwohnern sei eben sehr klein im Vergleich zur Siebenmillionenstadt Santiago de Chile, fügt er an. Immerhin hat er bei seiner Arbeit an der WSL die Schweiz kennengelernt. Für sein Marie Skłodowska-Curie Actions (MSCA)-Projekt, ein Teil von TEMPEST («Global Air TEMPerature ESTimation on high mountain glaciers»), arbeitete er auf Schweizer Gletschern, vor allem im Wallis. Er betont jedoch: «Glaziologen müssen nicht immer reisen, sie verwenden Satelliten.»

Catriona ist sich ländliche Gegenden gewohnt. Sie arbeitet vor allem an den Gletschern von Peru, kommt gerade zurück von der Feldarbeit. Die Arbeitsbedingungen sind extrem, die Gletscher befinden sich dort auf über 5000 Metern über Meer und Catriona bleibt jeweils über zwei Wochen. 

In der Cordillera Vilcanota hat sie Messungen zum Schmelzwasser im Einzugsgebiet der Gletscher durchgeführt. «Dies ist sehr wichtig für die Bevölkerung, denn ihre Alpakas grasen auf den Feuchtgebieten unterhalb der Gletscher», sagt sie. Das Problem: Momentan kommt noch Wasser durch die Schmelze, aber dadurch schrumpft der Gletscher. Die Modellierung soll Auskunft darüber geben, wann der Gletscher nicht mehr genügend Wasser abgibt. Dabei arbeitet die Gruppe eng mit peruanischen Forschenden zusammen, was auch einen direkten Dialog mit den lokalen Gemeinschaften ermöglicht.

Ein bisschen wie bei Google

Jetzt gesellt sich Francesca Pellicciotti zu uns, energiegeladen und gutgelaunt, und führt uns beschwingt durch breite Korridore, in denen schalldichte Glaskabinen für ungestörtes Arbeiten und Fauteuils mit hohen, vor Blicken schützenden Lehnen stehen. Ihr Büro dagegen ist klein und nüchtern. Doch am wichtigsten ist der Wissenschaftlerin eh der Computer, auf dem sie uns Modellierungen zeigen kann. Sie setzt sich gleich davor und öffnet ein paar Dateien.

Ob ihr ERC-Projekt RAVEN, mit vollem Titel «Rapid mass loss of debris covered glaciers in High Mountain Asia», nun beendet sei? «Bald!», meint sie und zeigt, worum es geht: um mit Schutt bedeckte Gletscher im Hochgebirge von Asien, kurz HMA für High Mountain Asia. Man würde erwarten, dass der Schutt sie vor der Erwärmung schützt, also als Isolierdecke wirkt. Satellitendaten aus dem Jahr 2012 zeigten aber, dass eisbedeckte und schuttbedeckte Gletscher in derselben Geschwindigkeit dünner werden. Francesca Pellicciotti war gerade von ihrer ersten Reise nach Nepal zurückgekehrt, wo sie grosse Klippen sowie unter einigen davon Schmelzwasserteiche vorgefunden hatte. Sie vermutete daher, dass diese vielleicht verantwortlich dafür sind, dass die schuttbedeckten Gletscher gleich schnell an Masse verlieren wie die Gletscher mit Eisdecke – und erhielt den ERC-Consolidator-Forschungszuschuss, um dies zu untersuchen. Das Resultat: Die Klippen funktionieren wie Fenster, welche die Energie von der Atmosphäre in den Gletscher lassen. Auch die Schmelzwasserteiche absorbieren sehr viel Energie, welche beim Abfliessen ins Eis abgegeben wird. 

Resultate mit Sogwirkung

Die Resultate können auch auf andere Gletscher übertragen werden. Sie waren anfangs aber auch umstritten: Andere Forschende meinten, die Klippen seien zwar wichtig, aber nur zum Teil für die Schmelze verantwortlich. Heute arbeiten deshalb verschiedenste Forschungsgruppen an den schuttbedeckten Gletschern.

Den ERC Grant erhielt Francesca Pellicciotti 2017 als ausserordentliche Professorin der Northumbria University in Newcastle und entschied sich, damit zurück in die Schweiz zu wechseln – sie hatte bei den Umweltingenieurwissenschaften der ETH Zürich doktoriert und als Postdoktorandin und Oberassistentin gearbeitet. «An der University of Northumbria in Newcastle gefiel es mir eigentlich gut. Doch neben der Lehrtätigkeit gab es kaum Gelegenheit, eine Forschungsgruppe zu bilden», erklärt sie. Deshalb wandte sie sich an die WSL, wo Prof. Dr. Konrad Steffen, damals Direktor der WSL, einen Forschungsschwerpunkt in Glaziologie aufbauen wollte. Dazu kam es leider nicht. 2020 verstarb Konrad Steffen bei einem Unfall auf Grönland.

Ich habe gelernt,
mich um die bestmögliche
Wissenschaft zu bemühen
und immer neue Fragen
zu stellen.

Ein wichtiger Grund für die Wissenschaftlerin, in die Schweiz zurückzukehren, war auch der Schweizerische Nationalfonds SNF: «Er ist zwar kompetitiv, aber man kann sich ständig bewerben und man gewinnt auch häufig.» Europäische Fördergelder dagegen, meint sie, brächten einen dazu, die eigene Messlatte höher zu legen. Es müssten bahnbrechende Projekte sein. «Der Gewinn des ERC Grants war für mich eine Offenbarung», erklärt sie. «Ich startete mit einem kontroversen Thema und während des Prozesses lernte ich sehr viel – ich habe gelernt, mich um die bestmögliche Wissenschaft zu bemühen und immer neue Fragen zu stellen.»

Ob der ERC der Grund ist, dass sie an das ISTA berufen wurde, weiss die Wissenschaftlerin nicht. Von der WSL mitgebracht hat sie zwei SNF-Projekte sowie einen Teil des Projekts PAMIR, ein Flaggschiffprogramm des Schweizerischen Polarinstituts, das 2022 gestartet wurde und von ihr koordiniert wird. «Auch bei diesem Förderbeitrag herrschte ein Wettbewerb», erinnert sie sich. In der Vergangenheit vergab das Institut jeweils kleinere Forschungsbeiträge von wenigen zehntausend Franken. 2021 wurde entschieden, anstelle von mehreren kleineren Projekten ein bis zwei sogenannte Flaggschiffprojekte zu unterstützen – Forschungsvorhaben, die weder beim SNF noch bei der EU Unterstützung finden würden, aber mit grossem Risiko und auch mit einem möglichen grossen Fortschritt verbunden sind.

Faszination Dritter Pol

Wie das Projekt RAVEN widmet sich PAMIR dem kurz HMA genannten Hochgebirge Asiens. Francesca Pellicciotti erklärt, warum diese Region so wichtig ist: «HMA ist der sogenannte dritte Pol. Es beherbergt die grössten Eismassen ausserhalb der Pole, zusammen mit einer der höchsten Bevölkerungsdichten mit wachsenden Wirtschaftszentren, aber auch mit politischer Instabilität. Es gibt keine Demokratien da, aber bereits Konflikte über die Wasserverteilung und aufgrund der Armut in dieser Region auch Massenmigration.» In dieser Region ist das Wasser von den Gletschern enorm wichtig.

Beim Pamir-Gebirge geht es um ein kaum bekanntes Phänomen: Die Gletscher verlieren alle an Masse. Bei der Auswertung der Daten von Satelliten über die Jahre zeigte sich jedoch, dass die Gletscher in diesem Gebiet nicht schrumpfen und teilweise sogar wachsen. Die Gruppe arbeitet nun daran, die Gründe für dieses Verhalten zu verstehen. Mit dabei sind Forschende von vier Schweizer Hochschulen sowie vom Paul Scherrer Institut. Und Francesca Pellicciotti ist zuversichtlich: «Ja, wir werden das in den nächsten drei Jahren herausfinden.»

Die Farben des Wassers

Ein weiterer Forschungsschwerpunkt der Gruppe ist das Verhältnis von sogenannt grünem und blauem Wasser im Hochgebirge. Dieser Forschungsbereich ist «die nächste Grenze», wie die Forscherin es ausdrückt. Als blau wird das Wasser aus Regen-, Gletscher- und Schneeschmelze bezeichnet. Grün ist das in der Vegetation gespeicherte Wasser, das direkt oder über die Pflanzen verdunstet und wieder in die Atmosphäre zurückgeführt wird. Und als weisses Wasser bezeichnet die Forschungsgruppe jene Menge, die vom Gletscher durch Verdunstung direkt wieder in die Atmosphäre gelangt.

Ein neues Grossprojekt in diesem Bereich hat am 6. Oktober 1,6 Millionen Euro Fördergeld zugesprochen bekommen. MegaWat («Megadroughts in the Water towers of Europe – from process understanding to strategies for management and adaptation») heisst es und wie bei PAMIR hat Francesca Pellicciotti dabei die Projektleitung inne. Mit dabei sind Forschende aus der Schweiz, den Niederlanden, Italien und Spanien aus der Klimawissenschaft, der Hydrologie und dem Wassermanagement. Finanziert wird das Projekt von Förderprogramm Water4all, das von Horizon Europe zusammen mit den nationalen Behörden von 18 europäischen Ländern finanziert wird. 

Erforscht werden Megadürren: Mit der Erderwärmung geben die Gletscher immer mehr Wasser ab. Aber sie werden dadurch auch immer kleiner, so dass sie von einem gewissen Zeitpunkt an, dem sogenannten Höchstwasser, immer weniger Wasser abgeben. Ausserdem gibt es immer häufiger Dürren.

Die Schäden von grossen Dürren, wie wir sie in den Alpen letztes und dieses Jahr erlebten, können jeweils in den Folgejahren durch höhere Niederschlagsmengen etc. ausgeglichen werden. Im Projekt MegaWat wird untersucht, wie viel es braucht, bis dieses System zusammenbricht. Erfahrungswerte hat man von Chile: Im Jahr 2010 kam dort die grosse Dürre – und sie hält bis heute an. Die Folgen sind verheerend. Die Kühe sterben, das Getreide geht ein. Das Wasser in Städten und in der Industrie wird knapp, die Wirtschaft leidet.

Von den Pyrenäen bis zum Kaukasus

Die Gruppe untersucht Dürren von mehr als einem Jahr Dauer und die Menge an blauem, grünem und weissem Wasser in den Bergen von ganz Europa, also in den Alpen, aber auch im Apennin, dem Kaukasus und den Pyrenäen. Damit will die Gruppe mehr über die Auswirkungen von Megadürren auf die Berge Europas erfahren – und darüber, welche Rolle die Gletscher und die Kryosphäre bei der Pufferung des Wasserdefizits spielen und spielen werden. Und Francesca Pellicciotti betont: «Das Projekt wurde bereits vor den Hitzesommern 2022 und 2023 lanciert!»

Durch MegaWat wird Francesca Pellicciotti weiterhin mit Schweizer Forschenden verbunden sein, vor allem den Klimawissenschaftlern Reto Knutti, Heini Wernli und Erich Fischer von der ETH Zürich. Ihr Vertrag mit der WSL indes läuft im März 2024 aus. «Ein Jahr Umzug muss genügen», meint sie und lacht. Dann zeigt sie auf ihr Velo, das vor dem Gebäude steht, und meint: «Wir können gerne noch zusammen essen gehen, aber ich brauche ungefähr eine Stunde mit dem Fahrrad zurück nach Wien.»

Interview mit Francesca Pellicciotti  (in Englisch)
Francesca Pellicciotti

Francesca Pellicciotti ist seit März 2023 Professorin für Kryosphäre und Gebirgshydrosphäre am Institute of Science and Technology Austria ISTA in Klosterneuburg/Wien. 1971 in Rom, Italien, geboren, studierte sie an der Universität La Sapienza in Rom Umweltingenieurwissenschaften und doktorierte an der ETH Zürich. Dort war sie von 2004 bis 2014 zunächst als Postdoktorandin, dann als Oberassistentin tätig, bevor sie 2015 als Assistenzprofessorin an die Northumbria Universität in Newcastle, Vereinigtes Königreich, wechselte. 2018 kam sie als Senior Scientist und Gruppenleiterin an die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL, der sie noch bis März 2024 angehört. Francesca Pellicciotti ist Vorsitzende der Arbeitsgruppe für schuttbedeckte Gletscher der IACS (Internationale Vereinigung für kryosphärische Wissenschaften) und wurde neben ihrem ERC Grant – intensiv begleitet von EU GrantsAccess – bereits mit zahlreichen Forschungsbeiträgen ausgezeichnet. Sie wohnt mit ihrem Partner und dem gemeinsamen bald achtjährigen Sohn Jonas in Wien.

Horizon-2020-Projekte

TEMPEST: Modelling mountain glacier air temperatures for improved future meltwater estimates

  • Projektart: ERC Consolidator Grant 
  • Laufzeit: 1. Mai 2018 – 30. April 2023 (60 Monate)
  • Beitrag für die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL): 2’000’000 € 

RAVEN: Rapid mass loss of debris covered glaciers in High Mountain Asia

  • Projektart: Marie Skłodowska-Curie Individual Fellowship 
  • Laufzeit: 1. Oktober 2021 – 30. September 2023 (24 Monate)
  • Beitrag für die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald Schnee und Landschaft (WSL): 191’149 € 
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