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Wieder Boden unter den Füssen finden

Wie traumatisierten Flüchtlingen aus Syrien durch eine einfache Methode geholfen wird, mit psychischen Belastungen umzugehen. Ein Ortstermin beim Psychologen Naser Morina an der Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik in Zürich.

«Möchten Sie eine frische Maske?», fragt uns die Rezeptionistin freundlich, als wir uns am Empfangsschalter der Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik des Universitätsspitals Zürich melden. Die Klinik ist auch in Coronazeiten geöffnet und bietet Menschen mit psychischen Problemen Sprechstunden und Therapien. Wir haben um 15.00 Uhr einen Termin bei Dr. Naser Morina, dem Co-Leiter des Ambulatoriums für Folter- und Kriegsopfer (AFK). Der Psychologe und Psychotherapeut arbeitet mit am Projekt STRENGTHS*, das psychisch belasteten Flüchtlingen aus Syrien schnell und effizient psychologische Hilfe bieten soll und das von der EU finanziert wird**. Getragen wird das Projekt von einem Konsortium von Hochschulen, psychiatrischen Institutionen und NGOs in Europa, im Nahen Osten, der Türkei, Australien sowie von der UNO-Flüchtlingsorganisation UNHCR. Die Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik ist eine der 15 Partnerorganisationen von STRENGTHS und Naser Morina der Projektleiter für die Schweiz.

Die psychische Not von Flüchtlingen und deren Folgen

«Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebieten leiden unter einer doppelten psychischen Belastung», erläutert uns Naser Morina, als wir uns an den beiden Enden des grossen Tisches in einem Sitzungszimmer gegenübersitzen. «Zum einen sind sie traumatisiert von Gewalterfahrungen und dem Verlust von Angehörigen, Existenzgrundlagen und Heimat. Zum andern erleben sie die Anforderungen des täglichen Lebens im Aufnahmeland als enorme Belastung. Alles ist neu und ungewohnt: die Sprache, die Kultur, das Verhalten der Menschen, der Umgang mit den Behörden. Wir nennen dies postmigratorische Lebensschwierigkeiten. Viele reagieren darauf mit Stress, Trauer, Depression, Konzentrationsschwierigkeiten, Isolation.

Flüchtlinge aus Krisengebieten
leiden unter einer doppelten
psychischen Belastung.

Sie brauchen professionelle Hilfe, die aber in den reichen Aufnahmeländern, in denen traumatisierte Flüchtlinge als Patienten in der Psychiatrie bis zu 15 Monate auf einen Termin warten, nicht im gewünschten Mass geboten werden kann. Dolmetscher-gestützte Behandlungen sind oft nicht verfügbar und spezialisierte Behandlungsangebote sind überlastet.» Die beschränkten therapeutischen Kapazitäten sind eine Seite des Problems, die gesellschaftlichen und ökonomischen Folgen eine zweite. Menschen, die unter psychischen Erkrankungen wie etwa einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden, haben Mühe, sich sprachlich und beruflich zu integrieren. Die Krankheitssymptome werden chronisch, die Betroffenen sind auf Sozialhilfe angewiesen und belasten die Gesundheits- und Sozialsysteme ihrer Aufnahmeländer. Daher liegt es im Interesse der Flüchtlinge wie der Aufnahmegesellschaft, psychisch belastete Flüchtlinge frühzeitig zu erkennen und ihnen geeignete Unterstützung anzubieten.

Während der Flüchtlingskrise 2015, als über eine Million Menschen, vor allem aus Syrien, über die Westbalkanroute einwanderte, wuchs in Europa der politische Druck, diese Menschen rasch zu integrieren. Die Europäische Union stellte Mittel bereit, um Konzepte und Projekte zum Umgang mit Flüchtlingen zu entwickeln. In dieser Zeit erhielt die Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik eine Anfrage der Freien Universität Amsterdam, ob sie beim Projekt STRENGTHS mitwirken möchte. Das Projekt beschäftige sich mit der Bewältigung von psychischem Stress syrischer Flüchtlinge und werde von der EU finanziert. Es habe zum Ziel, das psychologische Interventionskonzept «Problem Management Plus» (PM+) der WHO auf Länder Europas und die Nachbarländer Syriens zu adaptieren. Man sei daran, dazu ein Konsortium von Teilnehmerländern aufzubauen. Naser Morina kannte PM+ aus eigener Erfahrung von einem Einsatz in einem Flüchtlingslager in Jordanien und sagte sofort zu. Er erklärt uns, weshalb. 

Problem Management Plus (PM+) 

«PM+ ist eine niederschwellige, kostengünstige psychologische Intervention auf wissenschaftlicher Grundlage. Sie vermittelt Strategien und Techniken, die Menschen rasch befähigen, psychischen Stress selbst zu bewältigen. Die Vermittlung erfolgt in Gesprächen mit einem sogenannten Helfer in fünf Sitzungen zu je neunzig Minuten. Als Helfer wirken vertrauenswürdige Laien, meist selbst Flüchtlinge, die für ihre Aufgabe ausgebildet werden, jedoch über keine spezifische psychologische oder medizinische Fachausbildung verfügen. PM+ eignet sich sehr gut für den grossen Anteil an Flüchtlingen, die unter allgemeinen psychischen Stresssymptomen leiden, nicht aber für psychisch stark angeschlagene oder kranke Menschen. Diese benötigen nach wie vor professionelle Versorgung. Aber PM+ könnte vielen psychisch belasteten Flüchtlingen auch bei uns helfen, wieder Boden unter die Füsse zu bekommen und das Alltagsleben zu bewältigen.»

Es liegt im Interesse
sowohl der Flüchtlinge
wie der Aufnahmeländer,
psychisch belasteten Flüchtlingen
einfache, niederschwellige
Therapieformen anzubieten.

Die WHO hatte PM+ für Menschen entwickelt, die in armen Ländern in prekären Verhältnissen leben, etwa in Slums oder Flüchtlingscamps, unter psychischen Belastungen leiden, aber keinerlei Zugang zu professioneller Hilfe haben. Das Konzept wurde in Flüchtlingslagern in Kenia, Pakistan und Nepal getestet und zeigte sehr gute Wirkung. Daraufhin erstellte die WHO ein detailliertes Manual, das die Ziele und Inhalte, das stufenweise Vorgehen, die Rolle und das Verhalten der Helfer genau beschreibt. So soll beispielsweise nur ein Problem pro Sitzung besprochen werden und die Helfer sollen keine Ratschläge erteilen, sondern ihre «Klienten» anleiten, selbst Lösungen zu finden. PM+ fand grossen Anklang bei NGOs und wurde in Flüchtlingslagern im Nahen Osten und in Asien erfolgreich umgesetzt. 

PM+ für Europa

Allerdings lässt sich das WHO-Manual nicht wie eine Gebrauchsanweisung verwenden. PM+ muss dem jeweiligen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Kontext angepasst werden. Genau das leistet das STRENGTHS-Projekt nun für Europa. Naser Morina umschreibt dies so: «Es geht darum, PM+ mit syrischen Flüchtlingen in hoch entwickelten Industrieländern zu testen, um zu sehen, ob das Konzept auch hier Wirkung zeigt, und es dann auf die ländertypischen Gegebenheiten anzupassen und zu implementieren. Dabei müssen wir auch die Akteure des Gesundheitssystems an Bord holen. Sie sollen PM+ später ja ins Therapieangebot aufnehmen.» Das Projekt STRENGTHS folgt einem fünfstufigen Plan, der für alle Teilnehmerländer des Konsortiums gilt. In der Schweiz hat Naser Morina im Frühling Stufe drei abgeschlossen. Sie umfasste die Evaluation einer Pilotstudie mit 60 Probanden, mit der die Realisierbarkeit und die Wirksamkeit von PM+ getestet wurden. Von den Teilnehmenden erhielten 30 eine PM+-Intervention, 30 bildeten die Kontrollgruppe. Alle Probanden wurden vor und nach der Intervention nach ihrem psychischen Befinden befragt. Naser Morina nennt die Kriterien, nach denen die Studienergebnisse beurteilt werden: «Untersucht wird zum einen, ob bei den Teilnehmenden psychischer Stress und Depressionen, aber auch die Schwierigkeiten im Alltagsleben abgenommen haben oder nicht. Geprüft werden auch gesundheitsökonomische Indikatoren; ob jemand das Gesundheitssystem nach Abschluss der PM+-Intervention mehr oder weniger beansprucht, ob die Kosten der Intervention kompensiert werden durch geringere Arztkosten. Und dann fragen wir auch die Stakeholder, Ärzte, Sozialarbeiter, Psychologen und Behörden, ob sie nach der Intervention eine Veränderung bei den Flüchtlingen festgestellt haben.» Und was zeigen die Ergebnisse der Pilotstudie, fragen wir. «Sie sind vielversprechend», antwortet Naser Morina. «Alle Teilnehmenden der Behandlungsgruppe zeigten nach fünf Sitzungen weniger Stresssymptome, konnten sich im Alltag besser zurechtfinden und hatten auch weniger Schwierigkeiten, mit dem System in der Schweiz umzugehen. Bei den Teilnehmenden der Kontrollgruppe hat sich die Situation in dieser Zeit nicht verändert.» 

Bei diesen Gesprächen geht es
vor allem darum, den Menschen zuzuhören
und ihre Sorgen ernst zu nehmen.

Seit August wird nun in Stufe vier des Projekts die Wirksamkeit von PM+ in einer grossen randomisierten Studie mit 380 Teilnehmenden nochmals überprüft. Dazu wurden Syrerinnen und Syrer rekrutiert, die als Helferinnen und Helfer die PM+-Interventionsgespräche führen. Die Kandidaten mussten ein klares Anforderungsprofil erfüllen. «Neben Arabisch müssen sie ausreichend Deutsch oder Englisch sprechen, mindestens zwölf Jahre Schulbildung vorweisen und offene, empathische Persönlichkeiten sein, die sich gut abgrenzen können und kein Helfersyndrom entwickeln», erläutert uns Naser Morina. Nach diesen Kriterien wurden 13 Helferinnen und Helfer ausgewählt. Sie erhielten ein achttägiges Training gemäss den Vorgaben der WHO und sie werden während ihres Einsatzes von Supervisoren begleitet, die zugleich für die professionelle Qualitätssicherung zuständig sind. 

Was Helfende erfahren

Inzwischen ist es 16.00 Uhr und Naser Morina stellt uns die Helfer Malik Ossi und Kaser Alasaad sowie die Helferin Inaam Al Haristany vor, die sich zu uns an den Tisch im Sitzungszimmer gesetzt haben. Sie kommen eben von PM+-Gesprächen mit syrischen Flüchtlingen. Er habe heute einen Mann um die fünfzig zur dritten Sitzung getroffen, erzählt Malik Ossi, der vor fünf Jahren aus Nordsyrien in die Schweiz geflohen war und nun an einer Fachhochschule Sozialarbeit studiert. Der Mann fühle sich sehr unter Druck, Deutsch zu lernen, aber er wisse nicht, wie. Inaam Al Haristany, die vor 19 Jahren mit ihrem Mann aus beruflichen Gründen von Damaskus in die Schweiz kam, hat an diesem Nachmittag mit einer jungen Frau gesprochen. Sie sei seit 18 Monaten hier, leide sehr unter Heimweh, vermisse ihre Familie und Streitigkeiten mit den Wohnungsnachbarn machten ihr zusätzlich zu schaffen. Es sei die erste Sitzung mit der jungen Syrerin gewesen und sie habe ihr Anleitungen vermittelt, wie sie selbst mit Stress umgehen könne, erzählt Inaam Al Haristany. Auch der Helfer Kaser Alasaad stammt aus Damaskus. Er kam vor sieben Jahren als Flüchtling in die Schweiz und arbeitet hier als Imam für muslimische Gemeinden, Gefängnisseelsorger und Ansprechperson für Behörden. Der alte Mann, mit dem er heute geredet habe, leide sehr darunter, dass er seine kranke Tochter in Deutschland nicht besuchen könne. Er habe sie seit acht Jahren nicht mehr gesehen, könne aber nicht zu ihr, da sein Aufenthaltsstatus in der Schweiz keine Auslandreisen erlaube. «Ich kann das Problem für ihn nicht lösen, aber ich kann ihm einen Weg aufzeigen, wie er mit dem Problem umgehen kann», sagt Kaser Alasaad und fügt hinzu: «Es geht bei diesen PM+-Gesprächen ja in erster Linie darum, den Menschen zuzuhören, ihre Sorgen ernst zu nehmen. Behörden und Sozialarbeiter haben dafür meist keine Zeit und wenn Probleme auftauchen, gibt der Hausarzt Schmerztabletten.» Am Ende des kurzen Treffens spricht Inaam Al Haristany noch eine Erfahrung an, die ihr sehr wichtig ist: «Ich führe diese Gespräche sowohl mit Männern als auch mit Frauen und ich werde von beiden auf Augenhöhe respektiert, als Frau und als Araberin. Das wäre in Syrien unmöglich.» Als Naser Morina uns später zum Klinikausgang begleitet, bestätigt er diesen Befund. «Wir haben alle Probanden gefragt, ob sie als Helfende einen Mann oder eine Frau wünschen. Fast alle sagten, das spiele für sie keine Rolle. Geschlecht, Religion oder ethnische Zugehörigkeit sind für die Teilnehmenden der Studie kaum je ein Thema.» 

Die Coronapandemie hat auch die Arbeiten im STRENGTHS-Projekt verzögert. Inzwischen hat STRENGTHS aber wieder Fahrt aufgenommen. Wenn das Projekt am 30. Juni 2022 endet, liegt für jedes Teilnehmerland ein umfassendes Tool zur Anwendung von PM+ bei syrischen Flüchtlingen vor, inklusive Trainingsmaterial, Anleitung zur Supervision und Qualitätssicherung. Dieses Instrument steht dann den öffentlichen Gesundheitseinrichtungen zur Verfügung und kann rasch und mit geringem Aufwand auch auf andere Flüchtlingsgruppen zugeschnitten werden. Naser Morina hat für die Schweiz bereits damit begonnen, das PM+-Manual auf Flüchtlinge aus Eritrea, Sri Lanka und der Türkei anzupassen.

* STRENGTHS – Syrian REfuGees MeNThal HealTH Care SystemS

** Der Anteil des STRENGTHS-Projekts für die Schweiz wird vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI finanziert.

Interview mit Naser Morina
Naser Morina

Naser Morina studierte an der Universität Zürich Psychologie und schloss mit einem Master ab. Anschliessend doktorierte er an der Universität Freiburg zum Thema «Trauma und deren Konsequenzen bei zivilen Kriegsüberlebenden». Vor Kurzem hat er sich an der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich zum Thema «Psychological Mechanisms Underlying the Complexities of Refugee Mental Health» habilitiert. Seit 2008 arbeitet Naser Morina als Psychotherapeut und wissenschaftlicher Mitarbeiter und seit 2018 auch als Co-Leiter am Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer der Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik des Universitätsspitals Zürich. Seit 2012 ist er Co-Direktor Clinical Psychology and Psychotherapy an der Universität Pristina in Kosovo.

Horizon 2020 Projekt

STRENGTHS:  Fostering responsive mental health systems in the Syrian refugee crisis

  • Projektart: Kollaboratives Projekt (15 Partner)
  • Dauer: 66 Monate
  • Beitrag für die Universität Zürich: 757’466 €

www.strengths-project.eu

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