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Die Vögel und wir

Warum die australische Verhaltensbiologin Lucy Aplin Vögel faszinieren und wie sie mit ihrem Forschungsprojekt zu den Schwefelhaubenkakadus in Sydney eine grundlegen Frage des Lebens klären möchte.

Lucy Aplin mag Vögel. Sie sind ihr Lebensprogramm. Die kleine Lucy begleitete ihren Vater, einen Zoologen, oft auf Forschungsexkursionen ins australische Outback. Er interessierte sich für Reptilien, sie sich für Vögel. «Als ich fünf war, erhielt ich das erste Fernglas und von da an gab es für mich nichts mehr anderes als Vögel», erzählt sie uns lachend. Heute ist die sympathische Australierin eine erfolgreiche Verhaltensbiologin, die sich mit der kulturellen Evolution von Vögeln beschäftigt. Zurzeit arbeitet sie an einem grossen Forschungsprojekt, bei dem es um die Lern- und Anpassungsfähigkeit von Schwefelhaubenkakadus an urbane Lebensräume geht. So kommt es, dass Lucy Aplin im Sommerhalbjahr jeweils am Forschungsort in Sydney und im Winterhalbjahr an der Universität Zürich arbeitet.

Lucy Aplin ist eben aus Sydney zurück. Wir sitzen mit ihr am runden Tisch ihres Büros am Institut für Evolutionsbiologie und Umweltwissenschaften auf dem Uni-Campus Irchel. Vom grossen Poster an der Wand blicken ein gutes Dutzend Kakadus aller Arten und Grössen auf uns. Was sie denn an Vögeln so fasziniert, fragen wir. «Vögel sind uns so nah, wir begegnen ihnen täglich fast überall. Sie sind eine der erfolgreichsten Spezies, evolutionsgeschichtlich viel älter als wir, aber ebenso intelligent wie Säugetiere. Vögel sind uns in manchem ähnlich und gleichzeitig fremd wie Aliens. Sie haben kognitive Fähigkeiten, können lernen und Wissen weitergeben, aber ihr Hirn ist völlig anders gebaut als das der Säugetiere. Es ist klein und kompakt, hat nicht die gefurchte graue Masse wie jenes der Säuger. Doch unter dem Mikroskop erkennen wir, dass die Dichte der Neuronen in einem Vogelhirn sehr hoch ist, höher als bei Säugern. 

«Vögel sind uns in manchem
ähnlich und gleichzeitig fremd
wie Aliens.»

Ein Vogelhirn enthält fast ebenso viele Neuronen wie das viel grössere Hirn eines Säugers. Aber im Unterschied zu Säugern gibt es in einem Vogelkopf keine freien Räume. Da Vögel fliegen, müssen sie ihr Gewicht auf das absolute Minimum beschränken und darin sind sie sehr effizient, viel effizienter als Säuger.» Gibt es denn Vogelarten, die Sie besonders mögen, fragen wir. Lucy Aplin lächelt und zeigt auf die Kakadus auf dem Poster. «Papageienarten faszinieren mich ganz besonders. Diese langlebenden intelligenten Tiere haben ein ausgeprägtes Sozialleben, sind sehr anpassungsfähig und können in den unterschiedlichsten Habitaten leben.» 

Von den Kohlmeisen …

«Eine andere Vogelart, die mich begeistert, ist die Kohlmeise», fährt Lucy Aplin fort. «Ich mag sie, weil sie so enorm anpassungsfähig ist. Dieser kleine Generalist kann fast überall leben und fast alles fressen. Die Kohlmeise ist eine der wenigen Arten, die sich sehr erfolgreich an den von Menschen geprägten Lebensraum anpassen konnten. Ihre Population hat sich in den letzten 50 Jahren in Europa fast verdoppelt. Der Grund dafür liegt darin, dass Kohlmeisen sehr rasch auf Veränderungen reagieren und ihr Verhalten ändern können.» Für ihrer Doktorarbeit beschäftige sich Lucy Aplin intensiv mit Kohlmeisen. Sie untersuchte, wie sich neue Informationen in einer Kohlmeisenpopulation verbreiten und zeigte, dass die Sozialstruktur der Kohlmeisen dafür nahezu ideal ist. Dazu führte die Verhaltensbiologin folgendes Experiment durch: Sie brachte einigen eingefangenen Kohlmeisen bei, einen kleinen Futterspender auf unterschiedliche Weise zu öffnen. Die einen lernten, das Türchen nach links, die anderen es nach rechts zu schieben, um ans Futter zu kommen. Nach einer Woche liess sie die trainierten Vögel frei, stellte dieselben Futterspender überall im Wald auf und beobachtete, wie die Kohlmeisen darauf reagierten. Die Vögel beobachteten, wie ihre trainierten Artgenossen an den Futterspendern ans Futter gelangten und begannen, deren Verhalten nachzuahmen. Innert kürzester Zeit verbreitete sich die Information unter den Kohlmeisen des Waldes, dass im Futterspender Futter zu holen ist, wenn man das Türchen zur Seite schiebt. Da die Vögel das Verhalten ihrer Artgenossen exakt kopieren, schoben die einen das Türchen nach links, die anderen nach rechts, je nachdem, welche der trainierten Kohlmeise sie beobachtet hatten, obwohl sich das Türchen auf beide Seiten öffnen liess. Mit ihrem Experiment konnte Lucy Aplin nachweisen, dass Kohlmeisen neue Verhaltensweisen sehr rasch lernen und sich Anpassungen an neue Situationen in kurzer Zeit in der ganzen Population verbreiten. 

«Vögel lernen,
indem sie das Verhalten
von Artgenossen beobachten
und exakt nachahmen.»

«Die Vögel geben neue Verhaltensweisen nicht gezielt weiter. Sie lernen, indem sie das Verhalten von Artgenossen beobachten und dieses dann exakt nachahmen. Und sie sind sehr offen für Innovationen. Es dauerte eine Woche, den eingefangenen Kohlmeisen das neue Verhalten beizubringen. In der Natur brauchten ihre Artgenossen vom Moment der Beobachtung bis zur Anwendung der neuen Technik gerade mal fünf Minuten», schildert Lucy Aplin. Aber wie kommen Vögel in ihrem Habitat darauf, neue Möglichkeiten zu entdecken und sie zu nutzen? Auch dazu gebe es Studien zu den Kohlmeisen, die diese Frage beantworteten. Danach sind es einzelne besonders innovative «kluge» Vögel, die Neues ausprobieren und eine Vorreiterrolle spielen. «Aber der entscheidende Punkt ist: Innovationen sind selten», ergänzt die Forscherin. «Sie kommen innerhalb einer Generation vielleicht ein oder zwei Mal vor. Da sich Informationen unter den Vögeln jedoch sehr schnell verbreiten und sie die Innovation aufnehmen, reicht dies aus, um das Verhalten einer ganzen Population zu ändern. Dies beobachten wir übrigens auch bei den Kakadus.» 

… zu den Kakadus …

Damit sind wir wieder bei der Vogelart, für die das Herz der Verhaltensbiologin besonders schlägt. Kakaduarten sind in Australien weit verbreitet. Schwefelhaubenkakadus bilden in Grossstädten wie Sydney grosse Schlafgruppen. Schon als Studentin träumte Lucy Aplin davon, über Kakadus zu forschen. Ein Zufall machte den Traum wahr. «Die Gelegenheit bot sich, als ich während meines Doktoratsstudiums in Oxford in den Ferien meinen Bruder in Sydney besuchte. Auf der Strasse sah ich Schwefelhaubenkakadus, die Flügelmarkierungen trugen. Das ist ja cool, dachte ich, da forscht jemand zu Kakadus. Bisher hatte hier kaum jemand mit Kakadus gearbeitet. Ich kontaktierte die Forschungsgruppe und fragte, ob ich mit neuen Methoden soziale Netzwerkstudien über Schwefelhaubenkakadus machen könne. Sie fanden das eine gute Idee und ich erhielt ein Visiting Fellowship am Australian Museum in Sydney.» In der Folge beschäftige sich Lucy Aplin am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Deutschland und am Australian Museum in Sydney in mehreren Forschungsprojekten neben den Kohlmeisen auch mit dem populären weissen Vogel mit dem gelben Federnkamm auf dem Kopf. «Mich interessierte, wie die Kultur einer Vogelpopulation und die rasche Verbreitung von Informationen dazu beitragen, dass die Tiere ihr Verhalten immer wieder an die veränderte Umwelt anpassen können, insbesondere an die rapide Urbanisierung. Dazu boten die Schwefelhaubenkakadus ideale Voraussetzungen.» 

… und zur Kultur der Vögel

Lucy Aplin entwarf ein ambitioniertes Projekt, mit dem sie die Kultur- und den Kulturwandel der Schwefelhaubenkakadus unter verschiedenen Gesichtspunkten untersuchen und Antworten auf eine Grundfrage des Lebens finden wollte: Ist die Fähigkeit zur Innovation, sozialem Lernen und Bildung einer Kultur nicht nur beim Menschen, sondern auch bei anderen Arten der entscheidende Faktor, um neue Lebensräume zu erschliessen und so den Fortbestand der Art zu sichern? Unter «Kultur einer Vogelpopulation» versteht die Verhaltensbiologin die Summe der Fähigkeiten und des Wissens, die sich die Vögel einer Population durch Beobachtung angeeignet haben und die sie über eine bestimmte Zeitspanne teilen und wenn nötig an neue Verhältnisse anpassen. Mit ihrem Projekt «CULTURES ADAPT» bewarb sich Lucy Aplin bei der Forschungskommission der EU um einen ERC Starting Grant und erhielt ihn. Seit zwei Jahren ist sie nun daran, mit zwei Postdoktorierenden und zwei Doktorandinnen die Population der Schwefelhaubenkakadus in Sydney zu untersuchen. Dabei fokussiert sie auf drei Aspekte. Beim ersten geht es um die verschiedenen Lebensräume, das Futterangebot, die Demografie und die soziale Struktur der Schwefelhaubenkakadus in drei unterschiedlichen Quartieren Sydneys. Untersucht werden der Aufenthaltsort, die Bewegung, das Futter- und das Rufverhalten der Vögel. Die Informationen gewinnen Lucy Aplin und ihr Team durch ausgefeilte systematische Beobachtungsmethoden und durch Citizen Science, die Mitarbeit engagierter Einwohnerinnen und Einwohner, die ihre Beobachtungen und Erfahrungen zu Schwefelhaubenkakadus über eine App melden. Der zweite Aspekt richtet sich auf das Lernverhalten und die Verbreitung von Innovationen. Dazu führt Lucy Aplins Team Diffusionsexperimente durch. Die Forscherinnen bringen je einem ausgewählten Brutpaar an drei unterschiedlichen Schlafplätzen der Stadt bei, ein neues Futter zu akzeptieren oder Futter aus einem Futterspender zu holen. Hierauf beobachtet sie, ob sich dieses Verhalten bei den anderen Vögeln des Schlafplatzes durchsetzt und sich auch auf andere Schlafplätze verbreitet. Der dritte Aspekt konzentriert sich auf zwei Mechanismen kulturellen Wandels: komplett neue Innovation und kulturelle Innovation aufgrund veränderter Ressourcen. 

«Zwischen Bevölkerung
und Vögeln ist ein
«kulturelles Wettrüsten» um
den Zugang zu den Mülltonnen
im Gang.»

Lucy Aplin konzipierte ihr Projekt aufgrund der Erkenntnisse aus ihrer Studie «Innovationen zur Öffnung von Mülltonnen», in der sie gezeigt hatte, wie es Schwefelhaubenkakadus in den Quartieren Sydneys mit immer neuen Tricks gelingt, die Mülltonnen zu öffnen, um an Futter zu gelangen. Die Quartierbewohnerinnen und -bewohner beschwerten die Deckel ihrer Mülltonnen mit Steinen, aber die cleveren Vögel lernten rasch, die Steine von den Deckeln zu schieben und die Tonne zu öffnen. Zwischen der Bevölkerung der Quartiere und den Vögeln ist inzwischen ein eigentliches «kulturelles Wettrüsten» um den Zugang zu den Mülltonnen im Gang. «Das Spannende daran ist, dass sich hier eine direkte Interaktion zwischen Menschen und Vögeln beobachten lässt, die das Verhalten der Vögel und der Menschen wechselseitig beeinflusst», resümiert Lucy Aplin. 

Der ERC Starting Grant, der vom SBFI (Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation) finanziert wird, bietet der ambitionierten Forscherin die einmalige Chance, während fünf Jahren mit einem kleinen Team an einem Thema der Verhaltensforschung zu arbeiten, bei der sich Erkenntnisse erst über eine längere Beobachtungszeit einstellen. «Innovationen, Verhaltensänderungen und die Entstehung neuer Kulturen finden bei Vögeln ja nicht innert Tagen oder Wochen statt. Sie dauern Jahre. Dank der Finanzierung durch das SBFI können mein Team und ich dieselbe Vogelpopulation über eine längere Zeitspanne unter verschiedenen Gesichtspunkten gleichzeitig beobachten und so zu neuen Erkenntnisse kommen. Ohne ERC hätte ich die verschiedenen Forschungsaspekte, die ich jetzt parallel angehen kann, wohl in Einzelprojekte aufgeteilt und dafür Finanzierungen gesucht. Aber das hätte wohl nicht dieselben Resultate gebracht.» Womit werden Sie sich beschäftigen, wenn das Projekt 2027 abgeschlossen ist, fragen wir Lucy Aplin am Ende unseres Gesprächs. «Ich werde mich bestimmt weiterhin mit der Verhaltensflexibilität von Vögeln beschäftigen und selbstverständlich mit Papageienarten», antwortet sie mit einem Augenzwinkern. Als wir uns von Lucy Aplin verabschieden, scheinen uns auch die Kakadus auf dem Poster an der Wand zuzublinzeln.

Interview mit Lucy Aplin (in Englisch)
Lucy Aplin

Lucy Aplin studierte zwischen 2003 und 2009 an der Australien National University in Sydney, wo sie mit einem Doppelbachelor in Recht und Biologie abschloss. Ihre Doktorarbeit schrieb sie an der Australian National University und der University of Oxford und promovierte 2014 an den beiden Hochschulen. Zwischen 2014 und 2017 arbeitete sie an der University of Oxford: von 2014 bis 2015 als Postdoktorandin am Edward Grey Institute of Ornithology und von 2015 bis 2017 als Junior Research Fellow am St. John`s College. Danach hatte sie ein Independent Research Group Leader Fellowship am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Deutschland inne.
Im Jahr 2021 erhielt Lucy Aplin einen ERC Starting Grant. Da sie vom Max-Planck-Institut an die Universität Zürich wechselte, wird ihr ERC-Forschungsprojekt vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) der Schweiz finanziert. In der Folge wurde sie 2022 zur SBFI-Assistenzprofessorin am Institut für Evolutionsbiologie und Umweltwissenschaften der Universität Zürich ernannt und im selben Jahr auch Senior Lecturer an der School of Biology der Australian National University.

Image: Lucy Aplin
Image: Lucy Aplin
Image: Lucy Aplin
Image: Lucy Aplin
Horizon-Europe-Projekt

CULTURES ADAPT: Animal culture under change: a landscape-level analysis of socio-cognitive responses to human impact

  • Projektart: ERC Starting Grant
  • Laufzeit: 1. Oktober 2022 – 30. September 2027 (60 Monate)
  • Beitrag für die Universität Zürich: 1’659’079 CHF (SBFI-finanziert)
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