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Eine neue Perspektive auf neurodegenerative Krankheiten

Sie widmet sich seit über zehn Jahren demselben Thema: Magdalini Polymenidou erforscht die molekularen Mechanismen der neurodegenerativen Krankheiten ALS und FTLD und wird dafür vom NIH direkt gefördert: ein Porträt der Biomedizinerin von der Universität Zürich.

Ihr Büro ist klein, aber mit einem roten Sofa und zusätzlichen Utensilien persönlich eingerichtet. Und sie kommt zu Fuss zur Arbeit, weil sie ganz in der Nähe wohnt. Magdalini Polymenidou fühlt sich sichtlich wohl am Campus Irchel der Universität Zürich und ist an diesem Morgen auch sehr zufrieden mit sich und der Welt. Denn sie kann, wie sie uns sagt, wahrscheinlich schon bald einen entscheidenden Fortschritt in ihrer Forschung bekannt machen.

Die Wissenschaftlerin aus Griechenland hat sich dem Kampf gegen die amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS, verschrieben, der tödlichen Krankheit, die durch Stephen Hawking weltbekannt wurde. Und damit auch der weniger bekannten frontotemporalen Lobärdegeneration (FTLD), eine ähnliche Krankheit, die anstelle der Motorik aber das Gehirn angreift. Bei beiden Krankheiten häufen sich Proteine wie TDP-43 in den Nervenzellen an. Die molekularen Mechanismen, die diesen Vorgang auslösen, sind noch ungeklärt. Im POLYlab von Magda Polymenidou, wie sie sich kurz nennt, arbeitet ein multidisziplinäres Team aus den Neurowissenschaften, der Molekularbiologie, der Biochemie, RNA-Biologie und Bioinformatik daran, diese Mechanismen zu verstehen. Ziel ist es, eine Therapie für die beiden fatalen Krankheiten zu entwickeln.

Neue Entwicklungen

Warum hat sie sich ausgerechnet diese doch so seltenen Krankheiten ausgewählt? Magda Polymenidou schmunzelt: «In gewisser Weise bin ich zufällig in dieses Gebiet gekommen. Als ich in Thessaloniki Pharmazie studierte, war mir klar, dass ich in der Forschung arbeiten wollte, aber in Griechenland gab es nicht viele Möglichkeiten.» Das einzige Labor, das Studierenden Stellen anbot, beschäftigte sich mit neurodegenerativen Krankheiten, den Prionenkrankheiten. «So kam ich auf dieses faszinierende Gebiet», erklärt die Professorin. Nach ihrer Doktorarbeit, die sie dann in einem Labor in Zürich machte, entschied sie, sich ALS zu widmen, denn es gab damals einige neue Entwicklungen auf diesem Gebiet, vor allem im Bereich der Genetik, die es den Wissenschaftlern ermöglichten, die Mechanismen der Krankheit zu erforschen. 

ALS ist wegen Stephen Hawking eine sehr bekannte Krankheit. Doch laut Statistiken sterben nur eine bis zwei Personen auf 100 000 pro Jahr daran – und Hawking, der die Krankheit jahrzehntelang überlebte, ist eine absolute Ausnahme. «Ich kenne einen der Neurologen, die seine Krankheit verfolgten», erzählt die Forscherin, «und nach seinem Tod gab er seinen Körper der Wissenschaft. Daher weiss man, dass er kein spezieller genetischer Fall war. Man weiss nicht, warum er so lange überleben konnte.» Bei allen Erkrankten jedoch bleibt das Gehirn völlig intakt. «Dies ist wohl die tragischste Dimension an der Krankheit: die Patientinnen und Patienten bekommen zu hundert Prozent mit, was mit ihnen geschieht», führt Magda Polymenidou aus. Andere neurodegenerative Krankheiten gehen meist mit Demenz einher.

Erfahrungen aus den USA

Die Biomedizinerin arbeitet derzeit mit einem Grant des US-amerikanischen NIH – und zwar als Hauptempfängerin. Magda Polymenidou ihrerseits hat einen Subaward der Biotech-Firma Mabylon vergeben, mit der sie schon seit 2015 zusammenarbeitet. «Ich war als Postdoc in den USA und dort in verschiedene NIH-Grants involviert. Ich hatte also Erfahrung damit, wie diese Grants funktionieren», erklärt sie. Als die Partner von Mabylon die Notwendigkeit ansprachen, externe Finanzierung zu generieren, lag die Idee, es beim NIH zu versuchen, deshalb auf der Hand. «Dann bekamen wir wirklich vielversprechende Daten aus unserer Forschung und haben es deshalb versucht und uns um einen NIH Grant beworben», schildert sie – und lacht: «Zum Glück wusste ich nicht, wie klein die Chancen dafür standen ohne einen amerikanischen Partner, sonst hätten wir es vielleicht gar nicht probiert.» Tatsächlich seien auch amerikanische Kolleginnen und Kollegen sehr erstaunt gewesen, dass sie diese Unterstützung als Hauptempfängerin erhalten habe.

«Dies ist wohl die tragischste
Dimension an dieser Krankheit:
die Patientinnen und Patienten
bekommen zu hundert Prozent mit,
was mit ihnen geschieht.»

Magda Polymenidou forscht seit über zehn Jahren an ALS. 2011, als Postdoc in San Diego, war sie mit dabei, als man erkannte, dass der Verlust von TDP-43 zu Fehlern im Splicing von pre-mRNAs zu reifer mRNA führt – das Protein TDP-43 steht im Mittelpunkt der ALS-Forschung. «Damals verstanden wir, welche anderen mRNA-Moleküle, sogenannte TDP-43-Ziel-mRNAs, von diesem Protein beeinflusst werden», erklärt sie. Im Jahr 2013 kam sie an die Uni Zürich und begann Forschung mit ihrer eigenen Gruppe. 

Vor einem Meilenstein

Inzwischen hat die Forschung in diesem Feld gesamthaft viele Fortschritte gemacht. Magda Polymenidou präzisiert: «In der internationalen Wissenschaftlergemeinde waren bisher mindestens zwei neue Kandidaten von TDP-43-Ziel-mRNAs bekannt, die für den Verlust von Nervenzellen verantwortlich sind. Und wir in der Gruppe haben eben einen weiteren entdeckt!» Eine Publikation dazu ist in Vorbereitung und könnte schon Ende Jahr oder aber anfangs 2023 erscheinen. Laut der Entdeckerin kodiert dieses mRNA für ein synaptisches Protein, das wichtig ist für die Kommunikation von Nervenzellen. Zu finden ist es in kranken Zellen und zwar in viel grösseren Mengen, als es eigentlich haben dürfte. 

Für die Studien auf molekularer Ebene arbeitet die Gruppe mit Zellextrakten. Für Untersuchungen darüber, was im Gehirn passiert, steht post-mortem-Material zur Verfügung. Für dieses gibt es laut Magda Polymenidou weltweite Initiativen, vor allem in den USA und im Vereinigten Königreich. Denn ALS und FTLD sind viel zu selten, als dass man einfach im eigenen Umfeld Gewebe bekommen könnte. Das gespendete Gewebe wird mit den klinischen Daten geliefert und unter den Forschenden verteilt. Das POLYlab ist Teil davon.

Auch mit Versuchen an Mäusen wird gearbeitet, doch voraussichtlich nicht mehr lange. «Wir stellen heute fest, dass die molekularen Mechanismen bei dieser Krankheit humanspezifisch sind», erklärt die Forscherin. Man kann sie also nicht an Mäusen untersuchen. Die Gruppe arbeitet deshalb immer mehr mit menschlichen Nervenzellen, die im Labor reifen.

Die Macht von Bildern

Und was macht die Gruppenleiterin am liebsten? Die Antwort kommt schnell: «Mir die neuen Daten anschauen und mit meinen Studierenden diskutieren. Und den nächsten Schritt planen. Der Moment, in dem wir ein neues Resultat haben, sei es erwartet oder nicht, und in dem wir merken, wir kommen unserem Ziel einen Schritt näher, das ist der beste Teil meiner Arbeit.» Das empfand sie schon, als sie noch im Labor arbeitete. Heute ist sie dort nicht mehr häufig anzutreffen. Pierre de Rossi und die anderen fünf Mitglieder ihres Teams nehmen ihr diese Arbeit grösstenteils ab. Doch sie hat immer noch ein Lieblingsgerät: das superhochauflösende Mikroskop, das in einer Dunkelkammer steht. Es ist eines der Geräte, die sie sich gekauft hat, als sie erstmals als ausserordentliche Professorin eigenes Equipment bestellen konnte – und das teuerste. Damit kann die Gruppe selbst ganz kleine Strukturen in den Zellen beobachten. Und jetzt, wo sich die Gruppe den Synapsen zuwendet, also den winzigen Verbindungen zwischen den Nerven, macht dieses Mikroskop einen Riesenunterschied.

Auch ihre Söhne, vier und zehn Jahre alt, würden es lieben, Bilder von Nervenzellen zu sehen, erzählt die Forscherin – «und sie wollen dann immer wissen, welches der gesunde Teil ist und welches der kranke.»

Glück und Ausdauer

Im November läuft das NIH-Projekt aus. Für Magda Polymenidou kein Problem: «Wir sind jetzt in der glücklichen Lage, dass wir verschiedene Möglichkeiten haben, die weitere Forschung zu finanzieren», sagt sie. Im Juni hat sie einen ERC Consolidator Grant bekommen, konnte ihn aber nicht annehmen, ohne die Schweiz zu verlassen – und das war keine Option für sie. Jetzt ist aber das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI des Bundes eingesprungen und hat die Preissumme kompensiert. Ausserdem ist die Forscherin sehr gut vernetzt: «Wir kennen verschiedene Stiftungen, die translationale Forschung unterstützen. Dort wollen wir andocken.»

«Alle, die einen gewissen
Level erreicht haben,
haben Misserfolge und Frustrationen zu
überwinden gehabt.»

Generell fühlt sich Magda Polymenidou recht privilegiert: Ihr Mann arbeitet auch als Wissenschaftler. Zusammen konnten sie als Postdocs in die USA, zusammen kamen sie auch wieder zurück und fanden hier eine Stelle. Ohne den Aufenthalt in den USA wäre sie aber nicht so weit gekommen, meint sie selber.

Und was wären Sie geworden, wenn nicht Wissenschaftlerin? Die Professorin lacht wieder: “Als ich noch kaum sprechen konnte, sagte ich schon, dass ich Forscherin werden will – dies zumindest erzählt mir meine Familie.» Sie wollte schon immer mit Krankheiten arbeiten. Früher dachte sie daran, Ärztin zu werden. Doch dann wollte sie wissen, warum wir überhaupt krank werden und diesen Vorgang verstehen. Und sie war ausdauernd. Nicht alles klappte beim ersten Mal. «Ich hätte immer, wenn ich an etwas scheiterte, aufgeben können», erinnert sie sich und fügt an: «Alle, die einen gewissen Level erreicht haben, haben Misserfolge und Frustrationen zu überwinden gehabt.» Nur so komme man zum nächsten Level, und: «Vor allem der jungen Generation sollten wir das immer wieder sagen. Denn viele sehen nur den glänzenden Erfolg.»

Interview mit Magdalini Polymenidou
Magdalini Polymenidou

Magdalini Polymenidou ist ausserordentliche Professorin für Biomedizin am Institut für Quantitative Biomedizin der Universität Zürich. Sie studierte Pharmazie an der Aristoteles-Universität Thessaloniki (Griechenland) und promovierte im Labor von Adriano Aguzzi am Universitätsspital Zürich. Als Postdoktorandin in der Gruppe von Don Cleveland an der University of California in San Diego (USA) beschäftigte sie sich mit der Entstehung von amyotropher Lateralsklerose (ALS) und frontotemporaler Demenz (FTD). 2013 kam sie als SNF-Assistenzprofessorin an die UZH. Seit 2019 ist sie ausserordentliche Professorin. Magdalini Polymenidou wurde mit dem EMBO Young Investigator Award (2018), dem Georg Friedrich Götz-Preis (2015), der SNF-Förderungsprofessur (2013), dem HFSP Career Development Award (2013) und dem NIH Pathway to Independence Award (2011) ausgezeichnet. Wenn sie nicht arbeitet, geniesst Magda Polymenidou die Zeit mit ihrer Familie, insbesondere mit ihren beiden Söhnen Lennart, der im September 2012 in San Diego geboren wurde, und Kilian, der 2018 in Zürich zur Welt kam.

NIH-Projekt

Development of immunotherapy targeting TDP-43 pathology in ALS and FTLD

  • Projektart: Kollaboratives Projekt mit 2 Partnern
  • Laufzeit: 15. Juni 2020 – 30. November 2022 (29.5 Monate)
  • Beitrag für das Konsortium: 236’307 €
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