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Mit kombinatorischer Chemie zu mehr Nachhaltigkeit

Die Herstellung von pharmazeutischen Medikamenten führt heute zu grossen Mengen an Abfall, weil die chemische Synthese von Stoffen viele Prozessschritte erfordert. Helma Wennemers, Professorin für Organische Chemie an der ETH Zürich, arbeitet mit einem FET-Open Grant daran, diese Schritte durch neue katalytische Reaktionen zu minimieren. Dabei orientiert sie sich an den Systemen der Natur: ein Gespräch mit ihr und ihrem Team.

Frau Prof. Wennemers, Sie arbeiten im FET-Open-Projekt CLASSY mit Ihrer Gruppe an einer neuen Technologie, bei der Sie die Natur als Inspirationsquelle nutzen. Wie sieht diese aus und welche Teile der Natur möchten Sie damit nachahmen?

Helma Wennemers: Grundsätzlich ist die Natur eine sehr gute Ideengeberin für alle Naturwissenschaftler. Denn sie hatte Jahrmillionen Zeit, um das Leben zu entwickeln und die Prozesse zu optimieren. Die Prinzipien der Evolution bauen wir in unserem Projekt als Grundkonzept ein, quasi als innovatives Werkzeug, um Katalysatoren zu entwickeln und zu optimieren. Denn ein katalytischer Prozess ist so komplex, dass es mit rationalem Design allein noch nicht funktioniert und vielleicht auch nie funktionieren wird, ein optimales System zu entwickeln. Dazu nutzen wir «Smart Screening Methoden», Verfahren, mit denen man Tausende, ja Millionen von Verbindungen testen kann, um daraus die bestgeeignete zu identifizieren. Das ist der Evolutionsprozess, den die Natur uns vormacht und den wir im Labormassstab nachempfinden.

Sie sagen, mit Ratio allein geht es nicht. Bewegen Sie sich im Bereich von Science-Fiction?

Man muss es so formulieren: Das Ziel ist klar, aber Forschung ist ein Vordringen in Unbekanntes, man weiss also nicht genau, was einen erwartet. Wir haben einen ganz klaren Plan, wo wir hinwollen und auch eine ganz klare rationale Strategie, wie wir dort hinkommen wollen. Das geht nur mit einer fundierten Ausbildung – in diesem Fall in molekularer Chemie. Aber bei allen herausfordernden Projekten gibt es immer Dinge, die nicht so funktionieren wie erwartet, weil man noch nicht alles verstanden hat. Dann muss man das bislang unbekannte Problem lösen bzw. einen Weg finden, wie man trotzdem zum Ziel gelangen kann. Deshalb ist Forschung nicht 100 Prozent planbar. Und daher ungemein spannend, wie in einen unbekannten Dschungel zu gehen, den man entdeckt.

Sie arbeiten seit November 2019 mit anderen Forschungsgruppen an CLASSY. Wer macht genau was?

Wir sind ein Team von sechs wissenschaftlichen Gruppen. Der Koordinator ist in Madrid, zwei Gruppen sind in Nijmegen, eine in Be’er Sheva, eine in Graz und wir sind in Zürich. Gemeinsam nutzen wir unkonventionelle Werkzeuge, um neue Katalysatoren und Prozesse zu entwickeln. Wir bringen dazu verschiedene Expertisen zusammen, die in der Vergangenheit noch nicht in dieser Weise zusammengekommen sind: Die Gruppen in Madrid und Israel beschäftigen sich mit Selbstreplikation. Die Gruppen in Holland sind Expertinnen in mikrofluidischen Systemen. Sie stellen ganz kleine Tröpfchen her, die als Reaktionsgefässe dienen und wie Compartments in unseren Zellen dafür sorgen, dass nicht alles gleichzeitig zusammenkommt und unkontrolliert reagiert. Die Grazer Gruppe ist Expertin in Biokatalyse, der Nutzung von Enzymen, und wir bringen unsere Expertise mit katalytisch aktiven Peptiden, der Chemischen Biologie und der Supramolekularen Chemie in das Projekt ein. 

Kennen Sie ein paar der Forschenden von früheren Kooperationen?

Die Kollegen aus Graz und Nijmegen kenne ich beide schon seit langer Zeit. Die Arbeiten des spanischen und des israelischen Forschers kannte ich aus der Literatur. In der Wissenschaft sind wir ja eine grosse globale Familie. Mit Wolfgang Kroutil aus Graz habe ich vor 15 Jahren schon einmal in einem EU-Trainings-Netzwerk zusammengearbeitet. Schon damals hatten wir die Idee, Enzyme und Peptide zusammenzubringen. Doch die Zeit war noch nicht reif. Als die Forschenden aus Spanien, Holland und Israel dann für das CLASSY-Projekt auf mich zukamen, habe ich den Kollegen aus Graz noch dazu geholt. 

Wie sehen die einzelnen Arbeitsschritte aus?

Wir versuchen zusammen mit der Grazer und der Nijmegener Gruppe, Enzyme mit Peptid-Katalysatoren zusammen im Konzert spielen zu lassen. Das ist keine Trivialität, denn man kann nicht davon ausgehen, dass die beiden miteinander koexistieren können, kompatibel miteinander sind und eine Synergie ausmachen. Dank der Expertise von Wilhelm Huck aus Nijmegen könnten wir, falls es in einem Topf nicht funktioniert, das Peptid in ein Tröpfchen und das Enzym in ein anderes packen, die beiden zusammenbringen und damit eine weitere Reaktion auslösen.

Und wie gestaltet sich diese Zusammenarbeit physisch?

Wir konnten das Kick-off-Meeting hier in Zürich durchführen und uns alle – inklusive unserer Doktoranden und Postdoktoranden – kennenlernen, das war sehr wichtig! Durch die Covid-19-Pandemie waren alle weiteren Treffen virtuell. Zum Glück hatten sich aber auch die Doktorierenden gleich zu Anfang vernetzt und kommunizieren nun bilateral oder trilateral per Zoom. 

Jasper Möhler, Doktorand: Ja, wir haben regelmässige Meetings, um die grösseren Ziele zu besprechen, teilen die Projekte in kleinere Teilprojekte ein, etwas in Holland, etwas in der Schweiz. Wir informieren uns über die Ergebnisse und wir besprechen auch Details in den eigenen vier Wänden. Für mich ist es toll zu erleben, wie gut das klappt und wie viel man als Team über verschiedene Forschungsgruppen hinaus erreichen kann.

Wennemers: Es macht mich auch sehr stolz zu sehen, wie die Mitarbeitenden das Projekt zu ihrem machen, mit eigenen Ideen kommen und so zu Führungspersönlichkeiten heranreifen.

Sie bringen die Expertise in Peptiden in das Projekt ein. Was machen diese Teilchen?

Die Peptid-Katalyse ist schon lange eine wichtige Säule meiner Gruppe. Wir erforschen, ob  Peptide überhaupt als Katalysatoren fungieren können und wenn ja, wie effizient sie sein können. Zu Beginn dieser Arbeit haben mir viele erfahrene Forschende gesagt: «Das wird nicht gehen! Schliesslich hat die Natur Enzyme und nicht Peptide als Katalysatoren entwickelt.» In der Natur und in unserem Alltag sind Peptide, quasi Minieiweisse, omnipräsent und fungieren z.B. als Hormone und Neurotransmitter. Es gibt auch viele Medikamente auf Peptidbasis. Der Süssstoff Aspartam ist ein Peptid. Aber es ist kein einziges katalytisch aktives Peptid in der Natur bekannt. Unsere Fragestellung ist daher schon ungewöhnlich. Sie hat handfeste Implikationen für unsere heutige Gesellschaft, aber auch für das Verständnis der Evolution von Enzymen. Es könnte ja sein, dass Peptide in der Ursuppe schon einmal die Rolle als Katalysatoren übernommen haben – eine fundamentale Fragestellung, Grundlagenforschung eben.

CLASSY zeichnet sich aber gerade dadurch aus, dass das Projekt sehr anwendungsorientiert ist. 

Richtig. Denn wenn ein Peptid in der Lage ist, ein effizienter Katalysator zu sein, kann die Industrie dieses Peptid für einen Prozess bei der Medikamentenherstellung nutzen.

Und dadurch würde die Herstellung von Medikamenten weniger Abfall generieren.

Genau. Das ist das Grundkonzept von Katalysatoren. Sie sorgen dafür, dass sich ein Molekül A in ein Molekül B umwandelt, und gehen selber unverändert aus dieser Reaktion hervor. Können wir Millionen von Molekülen A mit einem einzigen Katalysatormolekül umwandeln, verringert sich die Menge an Abfall.

Warum hat man das Problem der Abfallmenge so lange vernachlässigt? Ist es so schwierig?

Das Problem hat man schon lange erkannt. Eines der ersten grossen katalytischen Verfahren in der Industrie ist das Haber-Bosch-Verfahren zur Synthese von Ammoniak, das Fritz Haber und Carl Bosch am Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelten. In den Chemiekonzernen ist Katalyse ein grosses Forschungsthema und es werden viele katalytische Prozesse genutzt. Wir bringen neu die Peptide ins Spiel.

Und wie weit sind Sie bis jetzt damit gekommen?

Wir haben es geschafft, ein Peptid zu entwickeln, welches in der Lage ist, Tausende A-Moleküle in B-Moleküle umzuwandeln. Unser Peptid-Katalysator ist so robust, dass er auch in Gegenwart einer Vielzahl von sogenannten funktionellen Gruppen, die in unserem Körper und auch in Medikamenten vorkommen, funktioniert. Hier hat Jasper Grosses geleistet und die erste Publikation im CLASSY-Projekt beigesteuert.

Jasper Möhler: Das war nicht alleine ich, sondern baute auf vorherigen Arbeiten unserer Gruppe auf. Jetzt versuchen wir, mit verschiedenen katalytischen Systemen mehrere Reaktionen gleichzeitig auszulösen, um so in einem einzigen Gefäss sehr komplexe Produkte herstellen zu können.

Wennemers: Und wir sind auf gutem Weg. Momentan sind eher die Enzyme der limitierende Faktor, nicht die Peptide. 

Gruppenmitglieder haben seit Beginn der Studie schon an zehn Symposien mitgewirkt. Wie wichtig ist diese Präsenz für CLASSY? 

In typischen Jahren halte ich 20 bis 30 Vorträge pro Jahr an Symposien und anderen Universitäten, und meine Mitarbeiter diskutieren ihre Forschung an Tagungen und im Gespräch mit Wissenschaftlern aus aller Welt, die uns an der ETH Zürich besuchen. Das gehört zum wissenschaftlichen Austausch und ist etwas, was wir in der Pandemie sehr vermissen – und zwar auf allen Ebenen.

Laut Webseite des Departements sind Sie in neun Fachgebieten der Chemie tätig. Braucht es diesen interdisziplinären Ansatz, um bei einem Projekt wie CLASSY mitwirken zu können?

Als Frau muss man immer mehr machen als Männer (lacht). Nein, das hat mit dem individuellen Charakter zu tun. Es gibt sehr gute Forschende, die sich ein Leben lang einem einzigen Thema widmen. Mir dagegen macht Vielfalt sehr viel Spass, solange ich Expertin in den verschiedenen Gebieten bin. Bei uns befruchten sich die scheinbar so unterschiedlichen Bereiche gegenseitig, das ist toll.

Was sind Ihre nächsten Schritte im Projekt?

Jetzt geht es darum, die Peptid-Enzym-Synergien für mehrere Systeme zu etablieren und zu optimieren. Wir möchten diese Kaskadenreaktionen weiterentwickeln. Dazu kommt noch ein Projekt mit Metall- und Peptidkatalyse. Dies könnte man dann noch mit Enzymen verknüpfen und hätte dann die drei Säulen der Katalyse in einem Gefäss: Biokatalyse, Metallkatalyse und Organokatalyse.

Worauf in diesem Projekt sind Sie am meisten stolz?

Auf meine Mitarbeiter!

Interview mit Helma Wennemers
Helma Wennemers

Helma Wennemers ist seit 2011 ordentliche Professorin für Organische Chemie am Departement Chemie und Angewandte Biowissenschaften der ETH Zürich. 1969 in Deutschland geboren, hat sie in Frankfurt Chemie studiert und an der Columbia University in New York 1996 ihre Doktorarbeit abgeschlossen. Es folgten zwei Jahre als Postdoc an der Nagoya University in Japan. 1999 wurde sie Assistenzprofessorin an der Universität Basel. Von 2003 bis zu ihrer Berufung an die ETH Zürich war sie dort als ausserordentliche Professorin tätig. Ihre Forschung wurde mit zahlreichen Preisen gewürdigt, darunter der Leonidas Zervas Award der Europäischen Peptidgesellschaft (2010), der Pedler Award der Royal Society of Chemistry (2016), die Inhoffen-Medaille des Helmholtz-Zentrums (2017), der Netherlands Scholar Award für Supramolekulare Chemie (2019), der Spark Award der ETH Zürich (2020) und der Arthur C. Cope Scholar Award der American Chemical Society (2021).

Horizon 2020 Projekt

CLASSY: Cell-Like ‚Molecular Assembly Lines‘ of Programmable Reaction Sequences as Game-Changers in Chemical Synthesis

  • Projektart: Future and Emerging Technologies (7 Partner)
  • Laufzeit: 1. November 2019 – 31. Oktober 2023 (48 Monate)
  • Beitrag für die ETH Zürich: 585’389 €

www.fetopen-classy.eu

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