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Forschung im Klimanotstand

Die Klimawissenschaftlerin Sonia Seneviratne von der ETH Zürich arbeitet zurzeit an drei gleichzeitig laufenden Forschungsprojekten von Horizon 2020. Im Herbst starten zwei weitere von Horizon Europe. Dazu hat sie in leitender Position gleich an zwei der neusten Berichte des Weltklimarats IPCC mitgeschrieben: ein Blick in den Alltag einer vielbeschäftigen Frau. 

«Die Schweiz ist von der Zunahme von Hitzewellen, Starkniederschlägen und Dürren besonders betroffen – und es gibt auch schon Klimatote hier», erklärt Sonia Seneviratne und blickt dabei im Nationalratssaal des Bundeshauses in Bern ins Publikum. Mit klarer, ruhiger Stimme erläutert die Klimawissenschaftlerin sachlich, aber bestimmt und mit einfachen Worten in fünf Punkten und zehn Minuten, wie es um die globale Erwärmung, Extremereignisse und regionales Klima steht. Das war am 2. Mai 2022, als auf Einladung von Nationalratspräsidentin Irène Kälin und der Akademie der Wissenschaften Schweiz SCNAT acht führende Forschende den Parlamentarierinnen und Parlamentariern in kurzen Referaten die neusten Forschungsresultate zu Klima und Biodiversität darlegten – und zeigten, wie dringend der politische Handlungsbedarf ist. 

Sonia Seneviratne ist sich öffentliche Auftritte gewohnt. Als Expertin für Land-Klimadynamik und Klimaextremereignisse wird sie seit Jahren beigezogen, wenn es in den Medien um die Erklärungen von Phänomenen wie Trockenheit, Hitzewellen, Bodenabsenkungen oder grosse Unwetter geht. Als Koordinierende Leitautorin beim 1. Teil des 6. Sachstandsberichts des Weltklimarates IPCC, der im August 2021 erschien, war sie öfters auf verschiedenen Fernsehkanälen zu sehen.

Viel Arbeit neben der Arbeit

Die Professorin am Institut für Atmosphäre und Klima der ETH Zürich hatte schon 2018 am IPCC-Sonderbericht «Globale Erwärmung um 1,5°C» mitgewirkt – auch da als Leitautorin. Die ganze Arbeit für den Weltklimarat machte sie wie alle Forschenden ehrenamtlich – «abends, während ihre Kinder schlafen», wie es in einem Podcast von SRF heisst. Und doch ist sie seit 2014 bis heute jedes Jahr in Folge auf der Liste der «Highly Cited Researchers», der meistzitierten Forschenden. Als meistzitiert gelten Forschende, deren Veröffentlichungen zum ersten Prozent der am häufigsten zitierten Arbeiten in ihrem jeweiligen Fachgebiet gehören.

Jetzt widmet sich Sonia Seneviratne fünf europäischen Forschungsprojekten gleichzeitig. Wie schafft frau das nur? Die Westschweizerin mit sri-lankischen und waadtländischen Wurzeln sitzt entspannt in ihrem Büro im achten Stock des Institutsgebäudes, das einen tollen Ausblick über die Stadt bietet, und lacht: «Es ist nicht ganz so schlimm, wie es aussieht!» Nur zum Auspacken sei sie noch nicht gekommen, fügt sie an und weist auf ein paar Kartons in einer Ecke, die noch vom Umzug ins renovierte Gebäude vor ein paar Monaten stammen. Und sie relativiert: Das Projekt EDIPI, das neue Analysetechniken zur Bewertung von Wetterextremen testet, ist eine von der EU finanzierte Doktorarbeit. Ein anderes, MESMER-X, ist schon fast abgeschlossen und zudem ein eher kleines Projekt, dem allerdings eine Schlüsselrolle zukommt. Ausserdem verweist die Wissenschaftlerin auf ihr sehr kompetentes Team an Mitarbeitenden, das ihr die technische Arbeit abnehmen kann.

Ein Werkzeug für Emissionsszenarien

Dass jetzt gerade fünf Projekte gleichzeitig laufen, liegt wohl auch daran, dass Sonia Seneviratne überdurchschnittlich viele Eingaben macht. Selber meint sie bescheiden: «Es hat einfach gut geklappt.» Den Grund dafür sieht sie in der Dringlichkeit der Forschung in diesem Bereich.

Im Zentrum ihrer Forschung stehen Evaluationen von Emissionsszenarien. Untersucht werden Pfade für nachhaltige Emissionen. Das Projekt PROVIDE, das sich dem möglichen Überschreiten der im Pariser Abkommen festgelegten Temperaturschwellen widmet, soll ein Dashboard für Klimadienstleistungen hervorbringen. Im Projekt MESMER-X – «A Modular Earth System Model Emulator for Regional eXtremes» – hat die Gruppe einen Emulator entwickelt, der Klimamodelle ersetzen und sehr schnell Klimaberechnungen machen kann. 

«Ich behaupte nicht,
dass die Bäume gar nichts bringen,
aber es ist auch nicht so,
dass die Bäume uns retten werden.»

Damit kann man Rückkoppelungen für verschiedene Pfade berechnen. «Bei vielen Szenarien mit tiefen Emissionen wird angenommen, dass man viele Bäume pflanzt. Aber es ist nicht ganz klar, ob diese Bäume überleben können. Es geht also auch darum, wie realistisch diese Szenarien sind», erklärt die Forscherin.

Die verschiedenen Projekte sind miteinander verbunden: Die Horizon-Europe-Projekte, die im Herbst dieses Jahres starten, basieren beide teilweise auf dem entwickelten Emulator – ja, sie bauen darauf auf. ForestNavigator fokussiert dabei auf die Waldaspekte für Europa. RESCUE oder «Response of the Earth System to overshoot, Climate neUtrality and negative Emissions» untersucht die Szenarien auf globaler Skala. 

MESMER-X ist also das kleinste, aber zugleich das wichtigste Projekt, der Dreh- und Angelpunkt in Sonia Seneviratnes Forschung. «Es ist auch die Verbindung zu unseren ehemaligen Projekten, wo wir Zusammenhänge zwischen Änderungen der Klimaextreme und globaler Erwärmung ableiten konnten. Der Emulator basiert auf diesen Erkenntnissen», erklärt die Forscherin. Zugleich ist es jenes Projekt, welches ihr am meisten am Herzen liegt, wie sie gesteht: «Es ist für mich auch speziell, weil ich es wegen der Pandemie geschrieben habe.» Während des Lockdowns nämlich wollte sie ein SNF-Projekt zum Emulator einreichen. Doch dann wurde ihr Mann mit COVID-Symptomen krank und sie verpasste die Deadline. Aber die Forscherin sah, dass sie noch ein ERC-Proof-of-Concept-Projekt einreichen könnte, dessen Abgabetermin sechs Wochen später war. Also schrieb sie noch schnell einen ERC-Antrag mit derselben Idee – und es klappte. Mehr noch: In diesem kleinen Projekt konnte Sonia Seneviratne die Zusammenarbeit mit anderen Forschenden aufbauen, die nun zu den grösseren Projekten PROVIDE, ForestNavigator und RESCUE geführt haben. «Wir hatten mit dem Proof of Concept die Möglichkeit, etwas zu entwickeln, das man anwenden kann – mit gesellschaftlichen Vorteilen. Das hat auch für die Akzeptanz der anderen Projekte geholfen. Denn ich konnte sagen, dass wir bereits ein Werkzeug für unsere Vorhaben hätten.»

Für die Wälder, aber gegen Greenwashing

Das Projekt ForestNavigator hat zum Ziel, das Potenzial für den Klimaschutz der europäischen Wälder und forstbasierten Sektoren durch die Modellierung politischer Pfade zu bewerten und die öffentlichen Behörden über den am besten geeigneten Ansatz für die Forstpolitik und die Bioökonomie zu informieren. Eines der vielen, teilweise heftig umstrittenen Aufforstungsprojekte? Die Expertin für die Dynamik zwischen Vegetation und Klima verneint: «Ich behaupte nicht, dass die Bäume gar nichts bringen, aber es ist auch nicht so, dass die Bäume uns retten werden. Das Projekt widmet sich einer vernünftigen Planung von Waldbewirtschaftung in Europa.» Die wichtigste Botschaft sei, dass man die bestehenden Wälder nicht abholzen soll, erklärt sie. Denn die primären Wälder haben eine sehr wichtige Funktion. 

Aufforstung sei auch relevant, aber, so betont sie, man müsse dabei sehr vorsichtig vorgehen: «Man kann nicht irgendwo irgendwelche Bäume pflanzen. Manche werden gar nicht überleben oder man schädigt sogar die Biodiversität. Ich untersuche, in welchen Regionen Bäume überleben könnten», erklärt sie, «denn schon heute ist das Feuerrisiko gross, mit der zunehmenden Erwärmung wächst dieses Risiko.» Andere Fragen betreffen die Landwirtschaft. Mit dem Klimawandel braucht man vielleicht auch mehr Fläche, um die Nahrungssicherheit zu gewährleisten. Zusätzlich zu ihrer Arbeit im Projekt ForestNavigator umfasst also Sonia Seneviratnes Forschung die gesamte Landnutzung – so, wie eben auch Landnutzung und Klimawandel miteinander verbunden sind.

Für die Technik, gegen Technowashing

Bei RESCUE geht es neben der Aufforstung um Szenarien zur Abscheidung von Kohlendioxid aus der Luft (carbon dioxide removal CDR), um den Temperaturanstieg zu bremsen. Im Projekt werden diese Methoden untersucht. Es geht dabei auch um Aufforstung, aber zusätzlich um technologische Methoden für CDR unter anderem in Bezug auf die Frage, wie Klimaextremereignisse das CDR-Potential begrenzen werden. «Diese CDR-Technologien, zum Beispiel diejenigen der ETH Spin-off Firma Climeworks, müssen weiterentwickelt werden. Aber es besteht die Gefahr von Technowashing, also der Ansicht, dass diese Methoden die ganzen Emissionen aufnehmen können», warnt Sonia Seneviratne. Basierend auf IPCC-Szenarien schätzt sie, dass man damit künftig etwa zehn Prozent der jetzigen Emissionen mit CDR einfangen kann. Zu 90 Prozent gehe es also darum, keine CO2-Emissionen mehr zu haben – und dies müsste man allen klarmachen.

«Wir sind in der Klimawissenschaft an dem Punkt angelangt, wo wir alles wissen, was für die Gesellschaft relevant ist und es vor allem um Kommunikation geht», betont die Forscherin. Und: Die Dringlichkeit der Sache verlange heute, dass man an die Öffentlichkeit gehe. Denn es gebe keine grösseren Unsicherheiten mehr, was den Klimawandel anbelangt. 

«Jetzt geht es
um gesellschaftliche Entscheidungen.
Wir haben einen Notstand.»

Lediglich die Szenarien seien noch unsicher. Sonia Seneviratne spricht Klartext: «Jetzt geht es um gesellschaftliche, d. h. menschliche Entscheidungen. Wir haben einen Notstand. Wir haben nur noch knapp acht Jahre Zeit, um die Emissionen zu halbieren und nur noch zwei Jahre, um die Tendenz umzukehren, damit wir nicht über 1,5° C Erderwärmung kommen.»

Tatsächlich ist Sonia Seneviratne spätestens seit dem letzten IPCC-Bericht zur grossen Kommunikatorin geworden. Ein notwendiges Übel oder eine neue Perspektive im Forschungsalltag? Offenbar trifft für sie beides zu. Sie mag es, bei ihren Auftritten interessante Leute zu treffen, und eine bessere Perspektive auf gesellschaftliche Fragen in Bezug auf Klimahandeln zu gewinnen. Doch am liebsten widmet sie sich eigentlich ihrer Forschung: «Den Rest mache ich, weil es dringend ist.» Und auf die bewundernswerte Verständlichkeit ihrer Statements in der Öffentlichkeit angesprochen, meint sie: «Sie sind so klar, weil ich nicht so komplizierte Wörter verwenden kann. Ich denke dabei daran, wie ich zu meiner Mutter oder meiner Schwester sprechen würde.» Ach, würden dies nur alle Forschenden machen!

Im 6. Sachstandsbericht waren neben Sonia Seneviratne auch Erich Fischer und Martin Wild vom Institut für Atmosphäre und Klima der ETH Zürich dabei. Die Leitautorin hat momentan nicht vor, am nächsten, in sechs Jahren fälligen Statusbericht wieder teilzunehmen. Nicht der Arbeit wegen, wie sie sagt, sondern weil jetzt die Gesellschaft und nicht mehr die Wissenschaft gefordert ist: «Wir wissen mehr als genug, um jetzt zu handeln. Jetzt geht es darum, ob die Gesellschaft diese Informationen übernimmt und etwas daraus macht», erklärt sie. Auch familiäre Gründe führt sie an. Die Arbeit wird ihr aber trotzdem nicht ausgehen: Die beiden Grossprojekte ForestNavigator und RESCUE allein laufen bis ins Jahr 2026.

Interview mit Sonia Seneviratne (in englisch)
Sonia Seneviratne

Sonia Seneviratne ist seit 2016 ordentliche Professorin für Land-Klima Dynamik an der ETH Zürich. 1974 in Lausanne geboren und aufgewachsen, studierte sie an der Universität Lausanne Biologie und dann an der ETH Zürich und als Gaststudentin am Massachusetts Institute of Technology MIT, USA, Umweltphysik, und promovierte in Klimaforschung am Institut für Atmosphäre und Klima der ETH Zürich. 2003-2004 arbeitete sie als Postdoktorandin beim NASA/Goddard Space Flight Center in Greenbelt, USA, und kehrte anschliessend als Oberassistentin an die ETH Zürich zurück. 2007 wurde sie zur Assistenzprofessorin, 2013 zur ausserordentlichen Professorin und 2016 zur ordentlichen Professorin ernannt. Sonia Seneviratne hat mehrere Auszeichnungen für ihre Forschung erhalten, u.a. die James B. Macelwane Medal der American Geophysical Union AGU (2013), ein Consolidator Grant vom Europäischen Forschungsrat ERC (2014-2019) und die Hans-Oeschger-Medaille der European Geosciences Union EGU (2021). Sie hat an mehreren Berichten des Weltklimarats IPCC mitgewirkt. Zudem war sie Koordinierende Leitautorin des Sonderberichts zu Klimaextremereignissen (2009-2012), Leitautorin des Sonderberichts zur 1.5°C Klimaerwärmung (2017-2018) und Koordinierende Leitautorin des 6. Sachstandberichts (2018-2021). Sonia Seneviratne ist verheiratet und Mutter von zwei Kindern.

Horizon-Europe-Projekte

RESCUE: Response of the Earth System to overshoot, Climate neUtrality and negative Emissions

  • Projektart: Kollaboratives Projekt mit 17 Partnern
  • Laufzeit: 1. September 2022 – 31. August 2026 (48 Monate)
  • Beitrag für die ETH Zürich (vom SBFI finanziert): 719’083 €

iiasa.ac.at/projects/response-of-earth-system-to-overshoot-climate-neutrality-and-negative-emissions-rescue 

 

ForestNavigator: Navigating European Forests and Forest Bioeconomy sustainable to EU Climate Neutrality

  • Projektart: Kollaboratives Projekt mit 24 Partnern
  • Laufzeit: 1. Oktober 2022 – 31. September 2026 (48 Monate)
  • Beitrag für die ETH Zürich (vom SBFI finanziert): 429’650 €
Horizon-2020-Projekte

MESMER-X: A Modular Earth System Model Emulator for Regional eXtremes

  • Projektart: ERC Proof of Concept
  • Laufzeit: 1. März 2021 – 30. Juni 2022 (21 Monate)
  • Beitrag für die ETH Zürich:150’000 €

 

PROVIDE: Paris Agreement Overshooting – Reversibility, Climate Impacts and Adaptation Needs

  • Projektart: Kollaboratives Projekt mit 14 Partnern
  • Laufzeit: 1. September 2021 – 31. August 2024 (36 Monate)
  • Beitrag für die ETH Zürich: 643’595 €

ec.europa.eu/eip/agriculture/en/news/provide-project-0 

 

EDIPI: european weather Extremes:  DrIvers, Predictability and Impacts

  • Projektart: Marie Skłodovska-Curie Innovative Training Networks 
  • Laufzeit: 1. März 2021 – 28. Februar 2025 (48 Monate)
  • Beitrag für die ETH Zürich: 265’617 €

www.edipi-itn.eu 

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