Wo Supercomputer Zukunft rechnen
Von Wetterprognosen, Klimamodellen, warum Supercomputer an Grenzen stossen und was daraus folgt. Eine Begegnung mit Thomas Schulthess, dem Direktor des nationalen Schweizer Hochleistungsrechenzentrums CSCS.
Eigentlich wollte ich Thomas Schulthess im März am CSCS in Lugano treffen. Doch dann kam das Coronavirus, die Belegschaft des CSCS wechselte ins Homeoffice und das Zentrum wurde für Besucher geschlossen. Jetzt, drei Monate später, sitzt mir Thomas Schulthess gegenüber; am Tisch im Nebenraum eines Restaurants an seinem Wohnort Wädenswil bei Zürich. Sein Team und er selbst arbeiten noch immer von zu Hause aus, auch wenn der Lockdown inzwischen aufgehoben ist. Es liegt also auf der Hand, dass wir als Erstes auf die Corona-Krise zu sprechen kommen. Wie sie sich auf das CSCS ausgewirkt habe, frage ich. «Alles in allem haben wir Corona bisher gut überstanden. Wir führten schon Ende Februar Hygiene- und Distanzregeln ein und der Betrieb lief ohne Einschränkungen weiter. Wir können ja den grössten Teil unserer Arbeit im Homeoffice machen. Alle 120 Mitarbeitende sind gesund, niemand hat sich angesteckt. Sehr viel mehr als Corona hat uns der Cyberangriff gefordert, von dem im Mai fast alle Hochleistungsrechner Europas betroffen waren. Er zielte auf das Herz des Rechenzentrums», erzählt Thomas Schulthess. «Abgesehen von einem Betriebsunterbruch beim Supercomputer ‚Piz Daint‘ hat die Attacke keinen Schaden angerichtet, aber sie hat uns die Schwachstellen unserer Systeme offengelegt und wir haben gelernt», fügt er noch hinzu, bevor wir auf das eigentliche Thema unseres Treffens zu sprechen kommen: Die Rolle des Supercomputings für Wetter- und Klimavoraussagen und die Entwicklung der Hochleistungsrechner.
Wettervorhersagen auf einen Kilometer genau
Seit über zehn Jahren lässt MeteoSwiss seine Wetterprognosen auf einem dedizierten Supercomputer des CSCS rechnen. Der nationale Wetterdienst schickt die Daten seiner Messstationen nach Lugano, wo sie mathematisch in einem Modell aufbereitet und in den Computer eingegeben werden. Dieser berechnet nach den Vorgaben der Wettermodell-Software die Entwicklung der Wetterdaten für die kommenden drei bis fünf Tage, aus denen die Meteorologen von MeteoSwiss dann ihre Prognosen ableiten. Die Zusammenarbeit von CSCS und MeteoSwiss umfasst aber sehr viel mehr als reine Rechendienstleistung. Die beiden Bundesinstitutionen entwickeln gemeinsam, in gemischten Teams von Meteorologen, Informatikern und Computerspezialisten, sowohl die Wettermodelle wie auch die Software und die dazu passende Rechnerinfrastruktur. Thomas Schulthess beschreibt diese Kooperation so: «Wir implementieren mit MeteoSwiss die Modellausführungen auf den Rechnern und wir implementieren auch die Rechner. Das heisst, wir kaufen die Computer nicht ab Stange, sondern bauen die Komponenten in Zusammenarbeit mit dem Hersteller so, dass sie optimal zugeschnitten sind auf die Modellrechnungen und Arbeitsabläufe, die wir für MeteoSwiss ausführen.» Dazu kommt, dass die Wettermodelle alle drei bis vier Jahre aufdatiert oder durch neue ersetzt werden. Auch bei der Entwicklung dieser Wettermodelle arbeiten die europäischen Wetterdienste und die Hochleistungs-rechenzentren eng zusammen. Wo denn heute die grossen Herausforderungen bei der Berechnung des Wetters lägen, frage ich Thomas Schulthess. Er nennt zwei: den wachsenden Bedarf nach immer genaueren, lokalen Wettervorhersagen und die steigenden Kosten der Hochleistungsrechner. «Ein Beispiel: Der Flughafen Kloten möchte präzisere Vorhersagen für Nebel. MeteoSwiss kann heute das Wetter in einer Modellauflösung von einem Kilometer voraussagen, was für Gewitterwolken im Alpenraum ausreicht. Nicht aber für den Nebel. Dazu brauchen wir eine Auflösung von 100 Metern und um diese zu erhalten, muss der Rechner tausendmal mehr leisten. Das heisst, unser Computer muss länger rechnen oder wir müssen einen tausendmal leistungsstärkeren Rechner kaufen. Um länger zu rechnen, fehlt uns die Zeit. Der Flughafen will heute wissen, wie sich die Nebellage in den nächsten Stunden entwickelt. Einen tausendmal leistungsstärkeren Rechner zu kaufen setzt heutzutage voraus, dass wir unser Budget um den Faktor 1000 erhöhen können. Noch bis vor wenigen Jahren galt das Moore’sche Gesetz. Danach verdoppelte sich die Leistung der Hochleistungsrechner alle 18 Monate bei konstanten Kosten. Man musste also nur 18 Monate warten und erhielt zum damaligen Tagespreis einen Computer mit doppelter Leistung. Das funktioniert heute nicht mehr.»
Klimavoraussagen auf 10 Jahre
Neben den Wetterleuten von MeteoSwiss lassen auch die Klimaforscher der ETH Zürich ihre Simulationen von den Hochleistungscomputern des CSCS rechnen. Spätestens seit der Klimadebatte stehen die Klimawissenschaftler unter grossem Druck. Gesellschaft und Politik fordern immer dringlicher verlässliche Voraussagen über regionale und lokale Klimaveränderungen, um mit geeigneten Massnahmen reagieren zu können. Thomas Schulthess bringt diese Erwartungen auf den Punkt: «Die Klimamodelle können heute Mittelwerte der Klimaerwärmung in 10 oder 100 Jahren gut voraussagen. Aber als Laie kann ich mit der Aussage, dass die Temperatur global im Mittel um ein oder zwei Grad steigt, wenig anfangen. Wenn mir meine Klimakollegen aber sagen, dass Mitteleuropa in einigen Jahrzehnten aussehen wird wie Nordafrika heute und die Alpen wie das Atlasgebirge, dann kann ich mir das vorstellen. Solche Aussagen lassen sich heute leider noch nicht machen. Daher arbeiten die Klimaforscher der ETH Zürich, wie Christoph Schär und andere, mit Hochdruck daran, ihre Modelle so zu verbessern, dass ihre Klimasimulationen eine Auflösung von einem Kilometer erreichen, wie dies mit den Wettermodellen heute möglich ist.»
«Die Klimaforscher brauchen
die neuen Exascale-Supercomputer,
um genauere Klimasimulationen
zu erstellen.»
Tatsächlich verwenden die Klimaforscher dieselben, etwas adaptierten, Modelle wie die Meteorologen. Doch im Unterschied zu den Wetterleuten, deren Zeithorizont einige Tage umfasst, geht es bei der Klimaforschung darum, das Klima über Zeiträume von 10 bis 100 Jahren zu simulieren. Ebenso wie die Meteorologen arbeiten auch die Klimaforscher und die Spezialisten des CSCS beim Entwickeln der Modelle, der Software und dem Aufbau der Hochleistungsrechner eng zusammen. Zurzeit ist ein Team des CSCS und der Klimawissenschaftler daran, die Anforderungen an den neuen Supercomputer zu definieren, der dereinst den Hochleistungsrechner «Piz Daint» ersetzt, auf dem die Klimasimulationen zurzeit laufen. Mit dem neuen Rechner soll es möglich sein, den Zustand des Klimas in 10 Jahren an jedem Punkt der Welt in einer Auflösung von einem Kilometer zu simulieren. Der CSCS-Direktor ist zuversichtlich, dass dies gelingt. «Vor uns liegt noch sehr viel Arbeit, numerisch und klimawissenschaftlich. Aber wenn wir alles verstanden haben und alles gut läuft, werden wir bis Mitte der 2020er-Jahre in Lugano eine Modelltrajektorie (den Klimaverlauf der Welt über 10 Jahre) in vernünftiger Zeit rechnen können. Nun brauchen die Klimaforscher aber etwa 50 Trajektorien, um die Entwicklung des Klimas statistisch richtig interpretieren zu können. Dazu benötigen sie 50 Hochleistungsrechner und die können wir nicht allein stemmen. Zum Glück machen wir diese Berechnungen im Verbund mit unseren europäischen Partnern.»
Rechnen für Europa
Im Dezember 2019 lancierte die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den «Green Deal», eine Initiative mit dem Ziel, den Ausstoss von Treibhausgasen in der EU bis 2050 auf null zu senken. Europas Wirtschaft und Gesellschaft sollen so umgebaut werden, dass sie klimaneutral und nachhaltig funktionieren. Um dies zu erreichen, setzt die Kommission auf Digitalisierung und Big Data. Alle weltweit verfügbaren klimarelevanten Daten sollen digitalisiert werden und für Analysen und Vorhersagen über die Klimaentwicklung zur Verfügung stehen. In diesem ambitiösen Plan spielen die europäischen Hochleistungsrechenzentren wie das CSCS eine Schlüsselrolle. Sie verfügen über das Wissen und die Erfahrung, wie Supercomputer konfiguriert, gebaut und betrieben werden, um jene Megasimulationen rechnen zu können, aus denen sich dann Vorhersagen über regionale Klimaentwicklungen und deren Auswirkungen machen lassen.
«Beim ‹Green Deal› der EU
spielen die Hochleistungsrechenzentren
eine Schlüsselrolle.»
Zurzeit nutzen vor allem Institutionen wie nationale Wetterdienste und Spitzenforschende grosser Universitäten die Supercomputer der europäischen Rechenzentren. Die EU-Kommission möchte dies ändern. Künftig sollen mehr Forschende auch kleinerer Institutionen mit den Möglichkeiten der neuen Generation von Hochleistungsrechnern vertraut werden und sie nutzen. Nur so lassen sich aus der Flut digitalisierter Daten in kurzer Zeit möglichst viele neue Erkenntnisse gewinnen. Daher hat die Kommission unter anderen das Projekt «ESiWACE» (Excellence in Simulation of Weather and Climate in Europe) lanciert. Beim laufenden Programm ESiWACE2 wirken 20 Klima- und Wetterforschungsinstitutionen, Wetterdienste und Hochleistungsrechenzentren aus ganz Europa mit, unter ihnen auch MeteoSwiss und das CSCS. Thomas Schulthess umschreibt den Beitrag des CSCS an das ESiWACE2-Projekt so: «Wir bringen unser Knowhow und unsere Softwareprodukte ein, sodass die Klimaforscher und Wetterleute unserer europäischen Partner diese Software auch verwenden können. Und dann kommen jetzt ja diese neuen Klimamodelle, die Simulationen mit einer Auflösung von einem Kilometer ermöglichen. Um diese rechnen zu können, brauchen wir die neuen Exascale-Hochleistungsrechner. Wir wissen, wie man die baut und betreibt und wir helfen den Forschenden, sie künftig zu nutzen.» Und welchen Nutzen bringt die Mitwirkung des CSCS der EU, frage ich. Dazu hat Thomas Schulthess eine klare Meinung: «Das CSCS ist eines der kompetentesten Zentren Europas. Durch unsere Mitwirkung bei ESiWACE leisten wir einen substantiellen Beitrag zum Verständnis der Klimaentwicklung. Die EU profitiert von uns, technologisch und wissenschaftlich. Aber wir möchten die Erkenntnisse, die wir gewinnen, auch in die Gesellschaft tragen. Die politische Debatte über den Umgang mit dem Klimawandel wird im europäischen Kontext geführt und dabei spielt die EU eine Schlüsselrolle. Das Klima kennt keine Grenzen und die Schweiz ist keine Insel. Das haben wir ja auch durch Corona gelernt.»
Die Zukunft des Supercomputings
Am Ende unseres Treffens kommen wir auf die Digitalisierung der Gesellschaft zu sprechen. Welche Auswirkungen hat sie auf das Supercomputing, frage ich Thomas Schulthess. «Wir werden mehr Hochleistungsrechner brauchen und da das Moore’sche Gesetz nicht mehr gilt, werden wir mehr Strom aus erneuerbaren Energien benötigen», antwortet er und illustriert auch gleich, was dies bedeutet: «Wenn ich für ein Hochleistungsrechenzentrum im dicht besiedelten Mitteleuropa ein Gigawatt Strom brauche, nehme ich dieses Gigawatt der Gesellschaft weg. Das wird teuer und politisch untragbar. Daher müssen wir die Rechner künftig dort bauen, wo Strom günstig und umweltfreundlich produziert werden kann. Das ist heute nur noch im dünn besiedelten Nordeuropa möglich, wo Wasserkraft zur Stromerzeugung und Kühlung genutzt werden kann. Wir werden die Rechner und die Daten zum Strom bringen müssen, nicht umgekehrt. Wir arbeiten daher schon heute in einem Konsortium mit den Finnen, Norwegern und Isländern.»
Und wie sieht der Direktor des CSCS die Zukunft des Schweizer Hochleistungsrechenzentrums? «Wir verfügen heute mit zwölf Megawatt über eine sehr leistungsfähige Infrastruktur und wir können sie noch etwa um den Faktor 2 erweitern. Dann sind wir am Limit. Das heisst, das CSCS wird seinen Auftrag allein nicht mehr erfüllen können. Es muss sich als Teil eines europäischen Verbunds sehen und Spezialitäten pflegen. Ich kann mir vorstellen, dass wir mit unseren ETH-Kollegen aus der Informatik und Elektrotechnik bei der Entwicklung von Prototypen zusammenarbeiten und Pilotsysteme bauen, die zum Beispiel eine Modelltrajektorie in einer Klimasimulation rechnen können. Das Vervielfältigen, Skalieren und Produzieren realisieren wir dann im Verbund mit unseren europäischen Partnern auf Superrechnern irgendwo in Nordeuropa», sagt Thomas Schulthess. Dann muss er zurück ins Homeoffice, wo ihn die nächste Videokonferenz erwartet.
Das CSCS (Centro Svizzero di Calcolo Scientifico)
Das CSCS (Centro Svizzero di Calcolo Scientifico) ist das nationale Kompetenzzentrum für Hochleistungsrechnen der Schweiz und dient auch als Technologieplattform für rechnergestützte Forschung. Als User Lab stellt das CSCS seine Hochleistungsrechner Spitzenforschenden aus der Schweiz und dem Ausland zur Verfügung, die sich in einem offenen Wettbewerbsverfahren um Rechenzeit bewerben können. Zugang zur Supercomputer-Infrastruktur des CSCS erhalten auch Forschungszentren und die Industrie. Zu den Kunden des CSCS zählen der nationale Wetterdienst MeteoSwiss und das CERN. Das Hochleistungszentrum CSCS steht in Lugano und wird als autonome Einheit operationell von der ETH Zürich geführt.
MeteoSwiss
MeteoSwiss ist der nationale Wetterdienst der Schweiz und das Bundesamt für Meteorologie und Klimatologie im Departement des Innern (EDI). MeteoSwiss betreibt das nationale Boden- und Radarmessnetz, erfasst, verwaltet und analysiert Wetter- und Klimadaten, erstellt Wetterprognosen und Wetterwarnungen und erbringt meteorologische Dienstleistungen für die Flugsicherung. MeteoSwiss beschäftigt rund 360 Mitarbeitende in Zürich, Genf, Payerne, Locarno und Arosa.
Thomas Schulthess
Thomas Schulthess studierte Physik an der ETH Zürich, wo er 1994 auch doktorierte. In seiner Dissertation beschäftigte er sich experimentell und mittels Computer-Simulationen mit Legierungen. Es folgte ein Aufenthalt als Postdoktorand am Lawrence Livermore National Laboratory in Kalifornien. Von dort wechselte er 1997 ans Oak Ridge National Laboratory in Tennessee, wo er von 2002 bis 2008 eine Forschungsgruppe für Computational Materials Science mit 30 Mitarbeitenden leitete. Im Jahr 2008 wurde Thomas Schulthess als ordentlicher Professor für Computational Physics an die ETH Zürich berufen und zum Direktor des Schweizerischen Hochleistungsrechenzentrums CSCS ernannt.