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Wie Gott zum Gesetzgeber wurde

Wie Konrad Schmid, Professor für Theologie an der Universität Zürich, die hebräische Bibel erforscht, was er dabei entdeckt und warum die Erkenntnisse aus seinem ERC-Projekt weit über die Theologie hinaus bedeutsam sind. Eine Reportage von Rolf Probala.        

Konrad Schmid öffnet schwungvoll die Tür und betritt den hellen Raum von St. Peter. Die Altstadtkirche nahe dem Lindenhof ist ein Wahrzeichen Zürichs und für den Theologen Konrad Schmid ein wichtiger Ort seiner Biografie. St. Peter steht für die liberale, lebensnahe Theologie des reformierten Zürichs, die seit Generationen hier gepflegt wird und von der Konrad Schmid geprägt ist. Sein Grossvater war Pfarrer an St. Peter, sein Vater Professor für Alttestamentliche Wissenschaft und Rektor der Universität Zürich und beide waren bekannt als weltoffene, kritische Theologen. «Ich bin in einem nicht sehr religiösen, aber intellektuell wachen Haushalt aufgewachsen, in dem die christliche Tradition sehr präsent war», erzählt Konrad Schmid, während er uns durch die Kirche führt und vom Wirken seines Grossvaters berichtet. Grossvater Theologe, Vater Theologe; was hat ihn da bewogen, auch Theologie zu studieren? «Die familiäre Prägung hat sicher eine Rolle gespielt. Aber entscheidend war mein Interesse an den grossen geistesgeschichtlichen Zusammenhängen. Wieso denken Menschen in den Kategorien, in denen sie denken? Welche Antworten hatten Menschen verschiedener Epochen auf die grossen Fragen ihrer Existenz? Ich fand Theologie das ideale Fach, um eine Art Archäologie der menschlichen Geistesgeschichte zu betreiben.» Wir stehen unter der grossen hölzernen Kanzel vorne in der Kirche. Auf einem Podest liegt die Kirchenausgabe der Zürcher Bibel, zufällig aufgeschlagen an der Stelle des zweiten Buches Mose, die berichtet, wie Gott dem Moses die Gesetze für das Volk Israel gab. Konrad Schmid sagt lachend: «Da sehen Sie das Thema meines ERC-Projekts!»

Was Theologie als Wissenschaft leistet

Konrad Schmid schliesst die Glastüre auf, durch die man von der Theologischen Fakultät im ehemaligen Chorherrengebäude in den Kreuzgang des Grossmünsters gelangt. Ein kurzer Spaziergang durch die Altstadt hat uns von St. Peter ins Epizentrum der Zürcher Reformation geführt. Der kleine Kreuzgang spiegelt auf charmante Weise die Zeitenwende, die durch die Reformation ausgelöst wurde. An den Säulen und Bögen finden sich Figuren und Tierszenen aus Stein, die ans Mittelalter erinnern. Im Garten des Innenhofs wachsen Pflanzen, die der Zürcher Naturforscher und Universalgelehrte Conrad Gessner in seinen botanischen Werken beschreibt. Gessner war ein Zeitgenosse des Zürcher Reformators Ulrich Zwingli und ein Wegbereiter der modernen Naturwissenschaften. Auf unserem kurzen Rundgang durch den Kreuzgang schildert Konrad Schmid, wie aus Zwinglis «Schule für Theologie» die Theologische Fakultät entstand, die später in die neu gegründete Universität Zürich integriert wurde. «Wir sind die kleinste der sieben Fakultäten der Universität, aber in der traditionellen Reihenfolge sind wir noch immer die erste», schliesst Konrad Schmid seine Ausführungen zur Rolle der Theologie bei der Entwicklung der modernen Hochschule. Was leistet Theologie denn heute, abgesehen von der Ausbildung von Pfarrerinnen und Pfarrern, fragen wir. 

«Sie ist nach wie vor eine wichtige Wissenschaft, weil sie die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Verfügbaren und dem Unverfügbaren stellt. Auch wenn unsere Kultur heute oft einen anderen Eindruck erweckt, sind die Menschen wohl noch immer viel stärker von dem geprägt, was sie nicht kontrollieren können, als von dem, was in ihrer Verfügungsgewalt steht. Unsere Existenz ist völlig zufällig. Wir können uns nicht aussuchen, in welcher Zeit und an welchem Ort wir geboren werden und unsere eigene Existenz ist endlich. Diese zwei Fragen, die Zufälligkeit und die Endlichkeit der menschlichen Existenz, das waren in der Menschheitsgeschichte die Kulturtreiber sondergleichen und die Theologie heute beschäftigt sich mit diesen grundlegenden Fragen des Menschseins anhand einer spezifischen Tradition.»

Mit der «spezifischen Tradition» meint Konrad Schmid die jüdisch-christliche Sicht auf die Welt und den Menschen, wie sie die Schriften der Bibel vermittelt. Als Spezialist für alttestamentliche Wissenschaft und frühjüdische Religionsgeschichte beschäftigt sich Konrad Schmid mit der Entwicklung des religiösen Denkens im alten Israel und der Entstehung und Interpretation der Schriften des Alten Testaments der Bibel. Doch er versteht sich nicht nur als «Textausleger». Sein grosses Interesse gilt dem politischen, sozialen und kulturellen Kontext, in dem die «heiligen Schriften» der hebräischen Bibel entstanden sind. «Mich interessiert, welche Gedanken bestimmte Texte vermitteln. Aber mich interessiert ebenso sehr, woher diese Gedanken kommen und wie sie entstanden sind», erläutert er uns, während wir im Gebäude der Theologischen Fakultät in den ersten Stock hinaufsteigen.

Wie wissenschaftliche Theologie arbeitet

Konrad Schmid öffnet den Seminarraum und wir setzen uns an den langen Sitzungstisch. Durch die Fensterfront sehen wir das Grossmünster. Wir starten unser Aufnahmegerät und fragen Konrad Schmid, wie er denn bei seiner wissenschaftlichen Arbeit vorgehe. «Es ist eine textbasierte Forschung und ich arbeite methodisch wie ein Literaturwissenschaftler und Kulturhistoriker. Das heisst, ich beschäftige mich zum einen mit der Rekonstruktion und der Interpretation des Textes. Aber ich frage auch, wenn ein Text eine bestimmte Position vertritt, woher er diese hat. Wir wissen heute, dass das alte Israel nicht das Zentrum der damaligen antiken Welt war, auch wenn die Bibel durch ihre ungeheure Wirkungsgeschichte diesen Eindruck vermittelt. Die historischen Verhältnisse waren umgekehrt. Israel und Juda waren Kleinstaaten und standen in einem regen kulturellen und geistigen Austausch mit Ägypten und Mesopotamien. Viele Geschichten und Konzepte in der Bibel, wie der Schöpfungsbericht und andere, sind geistesgeschichtliche Importe aus den umliegenden Hochkulturen, die viel mächtiger, älter und differenzierter waren als Israel und Juda. Das Bild, das die historische Forschung vom Nahen und Mittleren Osten der Antike vermittelt, deckt sich nur zu einem kleinen Teil mit dem Bild, das die Bibel zeichnet. Mose war wahrscheinlich eine historische Figur, aber er hat wohl nichts aufgeschrieben. Es gab noch kein Hebräisch und keine Schriftkultur in der Zeit, in der die Bibel Mose ansiedelt. Das Alte Testament ist eine Bibliothek von 39 Büchern, die über einen Zeitraum von fast 1000 Jahren entstand. Mündliche Vorformen sind wahrscheinlich noch ein paar hundert Jahre älter. Aber geschrieben und über die Jahrhunderte immer wieder an die veränderten Verhältnisse und Geistesströmungen angepasst wurden die Schriften der hebräischen Bibel von vielen verschiedenen anonymen Autoren.»

Wie ein Archäologe sich behutsam durch Erdschichten gräbt und die Fundgegenstände einordnet, arbeitet sich auch Konrad Schmid durch die alttestamentlichen Texte, sucht nach Anhaltspunkten, anhand derer sich die Textteile datieren und Epochen zuordnen lassen und vergleicht die Aussagen mit anderen Textquellen und Funden aus der Zeit.

Wie Gott zum Gesetzgeber wurde

Ein Thema, das ihn als Theologen schon lange umtreibt, ist die Rolle Gottes als Gesetzgeber, die sich wie ein roter Faden durch das Alte Testament zieht. Das zweite Buch Mose erzählt, wie Gott dem Mose die Gesetze für das Volk Israel gab. Rund die Hälfte der Texte der ersten fünf Bücher der Bibel – der Tora – beschreiben diese göttlichen Gesetze detailliert. Dieses Bild von «Gott als Quelle des Rechts» steht jedoch im völligen Gegensatz zur Rechtssetzung in der antiken Welt, in welcher der König die höchste legislative Instanz war. Die antiken Rechtsdokumente, wie der Codex Hammurapi, der rund 1800 v. Chr. in Babylon entstand, dienten als Entscheidungshilfen bei der Rechtsprechung, aber sie waren keine normativen Dokumente. Die letzte Entscheidung lag beim König, er war das lebendige Gesetz. Wie kommt es denn, dass in der hebräischen Bibel Gott als Rechtssetzer auftritt, fragen wir Konrad Schmid. «Das alte Israel war nicht nur kulturgeschichtlich, sondern auch rechtshistorisch Teil der altorientalischen Kultur. Wenn man die Gesetze der Tora genau analysiert, sieht man, dass viele Dinge wortwörtlich aus dem Codex Hammurapi übernommen wurden. Die Tora entstand in einem langen Prozess zwischen dem 9. und 4. Jahrhundert v. Chr. Im Laufe dieser Entwicklungsgeschichte wurden die altorientalischen Rechtssätze, die auch in Israel und Juda Geltung hatten, auf radikale Weise neu interpretiert und Gott zum Gesetzgeber gemacht. Gott hat seine Gesetze dem Mose gegeben und dieser gab sie an sein Volk weiter, so die Fiktion der Tora. Bei der Entwicklung dieses Konzepts haben wohl auch die traumatischen Erfahrungen der Zerstörung des Nordreichs Israel 720 v. Chr. durch die Assyrer und des Südreichs Juda 587 v. Chr. durch die Babylonier eine Rolle gespielt. Aber durchgesetzt bei der geistigen Elite der Judäer hat sich das Konzept von Gott als Gesetzgeber wohl erst im 6. Jahrhundert v. Chr. im babylonischen Exil.» 

Vor drei Jahren hat Konrad Schmid beim Europäischen Forschungsrat das Projekt «DIVLAW – Wie Gott zum Gesetzgeber wurde» eingereicht und dafür einen ERC Advanced Grant erhalten. Seit Januar 2020 forscht er nun mit vier Postdocs an der Frage, welche geistes- und religionsgeschichtlichen, politischen und sozialen Kräfte dazu geführt haben, dass die Idee von Gott als Gesetzgeber entstand und welche Auswirkungen diese hatte. Die Ergebnisse dieser Forschungsarbeit sind weit über die Theologie hinaus von Bedeutung. Gott als Quelle der Gesetze und des Rechts wurde im Lauf der Geschichte zum wirkungsmächtigen Konzept im Judentum, Christentum und Islam und bestimmt religiöses und politisches Denken und Handeln bis heute.    

Was theologische Forschung bewirken kann

Welche gesellschaftliche Wirkung erhofft sich Konrad Schmid von den Ergebnissen seiner wissenschaftlichen Arbeit? «Ein zentraler Punkt ist für mich die historische Aufklärung. Vom Theologen David Friedrich Strauss stammt der Satz: ‹Die schärfste Kritik des Dogmas ist seine Geschichte.› Wenn wir wissen, wie etwas entstanden ist, hilft dies, vermeintlich unveränderliche Dinge kritisch zu betrachten und mit ihnen umzugehen. Für mich sind solche Forschungsprojekte aber auch wichtig, um dem verbreiteten religiösen Analphabetismus unserer Zeit abzuhelfen, der die Distanzierten und Konfessionslosen in unserer Gesellschaft oft prägt: Religionen sind historisch gewachsene kulturelle Orientierungssysteme, die uns auch dort beeinflussen, wo wir dies nicht erwarten oder wahrnehmen. Ich hoffe daher, dass wir mit unserer Forschung dazu beitragen können, die langfristigen Auswirkungen unserer eigenen Religionsgeschichte aufzuzeigen.»

Es ist kurz vor fünf Uhr und Konrad Schmid fragt, ob wir einen Kaffee möchten. Während er zur Kaffeemaschine geht, installieren die Postdocs Lida Panov, Dylan Thomas und Anna Angelini vom «DIVLAW»-Team ihre Laptops. Ihr Kollege Peter Altmann soll sich in Kürze über Zoom aus Reno in den USA zuschalten. Gleich beginnt hier im Seminarraum das Vorbereitungsmeeting für eine wichtige Konferenz. Jedes Teammitglied ist auf ein Gebiet spezialisiert und arbeitet selbständig an einem Teilaspekt des Projekts. Bei einer zweitägigen Konferenz im Juni wird das «DIVLAW»-Team seine ersten Erkenntnisse nun drei Experten aus Yale, Austin und Princeton präsentieren und von ihnen kritisch begutachten lassen. 

Das «DIVLAW»-Projekt endet 2024. Womit wird sich Konrad Schmid danach beschäftigen? «Mein nächstes Projekt wird sich wahrscheinlich um die Frage nach der Entdeckung einer egalitären Anthropologie in der Bibel drehen», erzählt er uns, während wir auf die Zoomverbindung nach Reno warten. «Die hebräische Bibel scheint das erste Dokument der Menschheitsgeschichte zu sein, in dem eine einheitliche Auffassung der Spezies Mensch formuliert wird. Im antiken Orient unterschied man zwischen Königen, Freien und Sklaven. Die Kategorie «Mensch» gab es nicht. Die Idee, über die sozialen Klassen hinweg einen einheitlichen Begriff von «Mensch» zu definieren, scheint zum ersten Mal im Eröffnungskapitel der Bibel formuliert worden zu sein, in dem gesagt wird: Alle Menschen, Mann und Frau, sind als Gottes Ebenbild geschaffen. Ich möchte herausfinden, welche Triebkräfte dazu geführt haben, dass sich diese Vorstellung entwickeln konnte, die sich ja im Laufe der Menschheitsgeschichte so erfolgreich durchgesetzt hat.» Inzwischen steht die Verbindung in die USA. Wir verabschieden uns und Konrad Schmid eilt zum Teammeeting.

Interview mit Konrad Schmid
Konrad Schmid

Konrad Schmid studierte Theologie an den Universitäten Zürich, Greifswald und München. Nach einem Vikariat arbeitete er von 1991 - 1999 als Assistent und Oberassistent an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. Von 1999 - 2002 wirkte er als Professor für Alttestamentliche Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg. 2002 wurde Konrad Schmid als Professor für Alttestamentliche Wissenschaft und Frühjüdische Religionsgeschichte an die Theologische Fakultät der Universität Zürich berufen. Von 2008 - 2010 stand er der Theologischen Fakultät als Dekan vor. Von 2020 - 2021 war er Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin.

Horizon 2020 Projekt

DIVLAW: How God Became a Lawgiver: The Place of the Torah in Ancient Near Eastern Legal History

  • Projektart: ERC Advanced Grant
  • Laufzeit: 1. Januar 2020 – 31. Dezember 2024 (60 Monate)
  • Beitrag für die Universität Zürich: 2’500’000 €
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