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NESTORE, der persönliche Berater im Alter

Altersforscherin Christina Röcke entwickelt in einem EU-Projekt einen digitalen Coach, der Nutzerinnen und Nutzer zur Stärkung der körperlichen, emotionalen und geistigen Fähigkeiten motiviert – und sie individuell berät. 

Frau Röcke, welche Apps sorgen für Ihr Wohlbefinden?

Christina Röcke: Gerade während des Lockdowns war für mich wichtig, dass ich mit meinem Smartphone Textnachrichten oder Bilder schicken konnte. Ich habe auch Skype wiederentdeckt, um mich zum Beispiel mit Freunden virtuell auszutauschen. Beides hat zu meinem Wohlbefinden beigetragen. 

Benutzen Sie eine Fitness-App?

Ich trage seit zwei Jahren ein Fitbit-Armband, das meine Schritte zählt. Ich trage es unregelmässig, meist dann, wenn ich dazu motiviert werden muss, mich mehr zu bewegen. Ich muss gestehen, dass ich sehr empfänglich bin für das Feuerwerk, das der Zähler nach 10’000 Schritten anzeigt (lacht).

Wie nachhaltig können solche Apps das Bewegungsverhalten verändern?

Ob es zu einer nachhaltigen Verhaltensänderung kommt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Zum Beispiel: Will eine Person ihr Verhalten überhaupt verändern? Jemand, der sich kaum bewegt, weiss, dass er sich mehr bewegen sollte. Eine Verhaltensänderung bedingt, dass man sie zunächst selber will. Zudem hat sich gezeigt, dass eine Verhaltensveränderung dann nachhaltig ist, wenn man gut plant und sein eigenes Verhalten im Blick hat und unterstützt und motiviert wird.

Mit einem Feuerwerk auf der Fitbit-Anzeige?

Genau. Jeder Mensch braucht Resonanz und Anerkennung. Gerade wenn man einen Hänger hat oder wenn es einem schwer fällt, sich zum Beispiel regelmässig zu bewegen, hilft Zuspruch, eine motivierende Aufforderung und persönliches Feedback.

Es gibt zahlreiche Gesundheitsapplikationen. Sie entwickeln im EU-Projekt NESTORE einen digitalen Coach für Menschen ab 60. Was unterscheidet diese App von Bestehenden?

Die meisten Apps bieten entweder ein Fitnessprogramm an oder ein Ernährungsprogramm oder Spiele, um die Hirnleistung zu aktivieren. Wer alles will, braucht drei verschiedene Apps oder Geräte, die unabhängig voneinander die Person zu Übungen auffordern. Jeden Tag die Übungen von drei oder mehr Apps zu machen, kann zu Stress führen. Der digitale Coach, den wir entwickeln, fokussiert auf alle Fähigkeiten, die für das Wohlbefinden wichtig sind und während des physiologischen und psychologischen Alterns gestärkt werden sollten: Bewegung, gesunde Ernährung, die Pflege sozialer Beziehungen und kognitive Fähigkeiten. Der Coach und Berater NESTORE soll helfen, dass der Nutzer diese Fähigkeiten möglichst lange aufrechterhalten kann. Dafür schlägt er nicht nur strukturierte Übungen vor, wie Turnübungen, sondern auch Tätigkeiten, die der Nutzer gut in den Alltag einbauen kann. 

Zum Beispiel?

Zum Beispiel könnte NESTORE vorschlagen, dass eine Nutzerin ein Treffen mit der Tochter mit einem Spaziergang verbindet. So hat sie sozialen Kontakt und Bewegung. 

NESTORE geht auf die jeweiligen Personen ein?

Ja, das ist das Wichtigste, um eine Person überhaupt für Tätigkeiten zu motivieren. Wir alle wünschen uns, dass uns das Gegenüber wahrnimmt und auf uns eingeht. Der Coach ist auf die jeweilige Person zugeschnitten. Deshalb ist auch der mythologische griechische Held Nestor, der den König Agamemnon im Trojanischen Krieg weise beraten hat, Pate unseres Projekts. Uns ist diese Individualisierung so wichtig, weil man die Menschen nach der Pensionierung oft als «Alte» in einen Topf wirft. Das hat man jetzt wieder bei der Festlegung der Corona-Risikogruppe gesehen: Dazu gehören alle über 65-Jährigen. Dabei ist diese Gruppe in vielen Bereichen sogar heterogener als die 15- bis 55-Jährigen. Ich wehre mich dagegen, alle über 65 in einen Topf zu werfen. Das führt dazu, dass man das Individuum nicht mehr sieht. 

Wie weiss denn der digitale Coach, wen er da berät?

Bevor ein Nutzer seinen Coach einsetzen kann, wird er über seinen Gesundheitszustand, seine Interessen, seine soziale Situation, seine Stärken und Schwächen ausgefragt. Da geht es zum Beispiel darum, ob die Person alleine lebt, ob sie Haustiere hat, ob sie in der Stadt oder auf dem Land lebt; auch ihre Hobbys werden abgefragt oder ob sie sich einsam fühlt und vieles mehr. Aufgrund dieser Angaben macht der Coach dann Vorschläge. Einer Nutzerin, die nicht gerne tanzt, schlägt er nicht vor, tanzen zu gehen. Jemanden, der dreimal in der Woche in eine Turngruppe geht, fordert der Coach nicht auf, Liegestützen zu machen. Der Coach fragt den Nutzer auch immer wieder, wie es ihm geht. Wenn er sich zum Beispiel einsam fühlt, dann schlägt er ihm vielleicht vor, einen Kaffee auswärts trinken zu gehen. Der Coach muss die Vorlieben, Interessen und Gewohnheiten seiner Nutzerin oder seines Nutzers zuerst kennenlernen. 

«Jeder Mensch braucht
Resonanz und Anerkennung.»

Deshalb gibt es bei Beginn eine zweiwöchige Testphase, währen der das Profil vervollständigt wird. Nach drei Monaten wird die Beratung von NESTORE evaluiert. 

Ist ein solch persönlicher digitaler Coach nicht eine Utopie?

Wir tüfteln tatsächlich an einem hochkomplexen System, vor allem, weil wir auch die psychologischen und kognitiven Ebenen einbinden. Wir wollten einen digitalen Coach entwickeln, der ganzheitlich und individualisiert berät. Jemand muss den Anfang machen. Ist einmal ein Exemplar eines solchen digitalen Coaches da, kann man es stetig verbessern. 

Die App sammelt viele private und intime Daten.

Ja, der Datenschutz ist eine Herausforderung. Ich glaube, dass wir den Datenschutz neu denken müssen. Wir haben mit grossem Interesse die Diskussion um die Corona-Tracing-App mit der dezentralen Datenspeicherung verfolgt. Für unseren Coach streben wir ebenfalls eine dezentrale Speicherlösung an: Die Daten sollen beim Nutzer bleiben, und er soll auch allein darüber entscheiden können, mit wem er sie teilt.

Wir leben länger und sind auch länger geistig und körperlich fit. Was sind denn heute die grössten Herausforderungen im Alter? 

Das stimmt, wir leben deutlich länger als noch vor 50 Jahren und sind auch länger fit. Die subjektive Lebenszufriedenheit ist in der Schweiz bis ins hohe Alter gross, laut Befragungen. Sie zeigen weiter, dass sich die Menschen in der Schweiz auch bis ins hohe Alter gesund fühlen. Eine bedeutsame Gefahr im Alter ist die soziale Isolation. Einsamkeit, das belegen viele Studien, beeinträchtigt nicht nur die psychische, sondern auch die körperliche Gesundheit. 

Wie werden denn Wohlbefinden und Gesundheit heute definiert?

Die Weltgesundheitsorganisation hat im Jahre 2015 eine Definition von Gesundheit vorgeschlagen, die über das körperliche Befinden hinausgeht. Der Mensch wird in seiner körperlichen und geistigen Gesamtheit betrachtet und als ein Wesen, das der sozialen Beziehungen bedarf und persönliche Ziele verfolgt. Diese Definition geht von einem individuellen und dynamischen Wohlbefinden aus: Wohlbefinden mit 25 kann etwas anderes sein als mit 80. Für einen jungen Menschen kann es eine starke Lebensqualitätseinbusse sein, wenn seine Beweglichkeit eingeschränkt ist; für einen betagten Menschen ist das womöglich nicht so schlimm, wenn gleichzeitig einige persönlich wichtige Dinge noch möglich sind. 

In den letzten Monaten wurden die über 65-Jährigen aufgefordert, zu Hause zu bleiben. Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner durften zum Teil nicht mehr hinaus gehen oder Besuche empfangen. Hätte NESTORE hier zu einem besseren Wohlbefinden verhelfen können?

Ja, ich glaube schon, dass unser digitaler Coach hätte helfen können, sich weniger allein zu fühlen. Er hätte einem das Gefühl geben können, dass da jemand ist, der zu einem schaut. 

«NESTORE möchte helfen,
dass Nutzer die Fähigkeiten,
die für ein gutes Altern zentral sind,
möglichst lange aufrechterhalten können.»

Er hätte zum Beispiel einer Nutzerin vorschlagen können, ihre Enkelkinder anzurufen oder Turnübungen oder ein Strategiespiel auf dem Tablet zu machen. Die soziale Kontrolle ist heute oft negativ konnotiert, aber eine positiv verstandene soziale Kontrolle bedeutet auch Fürsorge. Dies ist der Zweck von NESTORE, dass er sich ein bisschen darum kümmert, dass sich die Nutzerin oder der Nutzer körperlich und geistig fit hält und nicht vereinsamt. Deshalb besteht der digitale Coach nicht nur aus Sensoren, einer App auf dem Smartphone oder dem Tablet und einem Armband mit Bewegungssensor, sondern auch aus einem weichen Objekt, das man anfassen und zu dem man sprechen kann. 

Wäre es nicht die Aufgabe von uns Menschen, dass wir uns umeinander kümmern?

Doch, das Beste ist immer noch, wenn ältere Menschen in ein soziales, sorgendes Netz eingebunden sind. Aber heute wohnen viele Angehörige nicht mehr beieinander, in den Städten kennen sich oft nicht einmal die Nachbarn, in Pflegeheimen hat man vielfach nur begrenzt Zeit, auf die emotionalen oder körperlichen Bedürfnisse der einzelnen Heimbewohnerinnen und -bewohner einzugehen. Unser digitaler Coach versucht nur, eine Lücke zu füllen. 

Woher kommt Ihr Interesse an älteren Menschen?

Es ist mir zugefallen. Vor meinem Psychologiestudium wollte ich 1996 ein paar Monate in den USA verbringen. Um meine Eltern zu beruhigen, dass die Zeit sinnvoll genutzt sei, machte ich ein Praktikum in einer Klinik auf dem Land. Vor Ort stellte ich fest, dass es sich um eine geriatrische Klinik handelte. Die Wörter «Geriatrie» oder «Gerontologie» hatte ich noch nie gehört. Die USA waren zu dieser Zeit viel weiter als Deutschland. Ich lernte als Praktikantin, dass es «die Alten» nicht gibt – und merkte, dass mir das höhere Alter ein grosses Forschungsfeld eröffnete. Dieses Praktikum machte mich zur Fürsprecherin für ältere Menschen.

Interview mit Christina Röcke
Christina Röcke

Christina Röcke ist stellvertretende Direktorin und Forschungsgruppenleiterin des Universitären Forschungsschwerpunkts (UFSP) «Dynamik Gesunden Alterns» an der Universität Zürich. Die gebürtige Berlinerin befasste sich in ihrer Doktorarbeit an der Freien Universität Berlin und am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung mit dem subjektiven Wohlbefinden und seinen alltäglichen Schwankungen; sie verglich unter anderem das tägliche Wohlbefinden junger Erwachsener mit jenem von älteren Erwachsenen. Auch ihre Forschung an der Universität Zürich dreht sich rund um die emotionale Gesundheit und das Wohlbefinden im mittleren und hohen Erwachsenenalter und damit zusammenhängende Alltagsaktivitäten. Das dreijährige Projekt NESTORE, das die EU mit fünf Millionen Euro unterstützt und bei dem die Universität Zürich mit 15 Partnern zusammenarbeitet, endet voraussichtlich im kommenden Frühsommer. Der Termin des Abschlusses hängt davon ab, ob die über 65-Jährigen, die als Sars-CoV-2-Risikogruppe definiert wurden, bald wieder von Forscherinnen und Forschern befragt werden dürfen.

Horizon 2020 Projekt

NESTORE:  Novel Empowering Solutions and Technologies for Older people to Retain Everyday life activities

  • Projektart: Kollaboratives Projekt
  • Dauer: 42 Monate
  • Beitrag für die Universität Zürich: 292’500 €

nestore-coach.eu

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