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Auf dem Weg von der klinischen Studie in den Markt

An der Klinik für Urologie der Universität Zürich wird eine Therapie gegen Harninkontinenz entwickelt, bei der adulte Muskelstammzellen eingesetzt werden – ein EU-Projekt, an dem Institute aus fünf Ländern beteiligt sind. Drehscheibe des Unternehmens ist das Labor für Gewebetechnik und Stammzelltherapie von Prof. Dr. Dr. Daniel Eberli. Ein Besuch bei der Projektleiterin Dr. Deana Mohr-Haralampieva und ihrem Team.

Sie hat es geschafft. Trotz der mittlerweile schon über acht Monate andauernden Corona-Krise und all den dadurch entstandenen Einschränkungen konnte Deana Mohr-Haralampieva, die klinische Projektleiterin und Koordinatorin des EU-Projekts mit dem klangvollen Namen MUS.I.C., Ende Oktober einen Spin-off gründen: Das Unternehmen mit dem nicht weniger klangvollen Namen MUVON Therapeutics AG soll dereinst die im Labor entwickelte Therapie in die Praxis überführen. Jetzt sitzt Deana Mohr, wie sich die 34-Jährige mit bulgarischen Wurzeln einfach nennt, in ihrem Büro des Uni-Labors für Gewebetechnik und Stammzelltherapie in Schlieren und freut sich sichtlich: «Ja, Corona war nicht Teil des risk mitigation plan, des Plans zur Risikominimierung von MUS.I.C.» Und doch hat es soweit geklappt.

Die Therapie, mit vollem Namen Multisystem Cell Therapy for Improvement of Urinary Continence, hilft Personen mit belastungsbedingter Harninkontinenz. Schätzungen zufolge leiden allein in der Schweiz 400 000 Personen daran, weltweit sollen es sogar 200 Millionen Menschen sein. Die meisten davon sind Frauen, deren Blasenschliessmuskel durch Geburten, Operationen oder durch die altersbedingte Abnutzung geschwächt ist. Aber auch Männer sind betroffen, vor allem, wenn sie eine Prostataoperation hinter sich haben. Allen gemeinsam ist, dass ihre Lebensqualität dadurch massiv beeinträchtigt und ihre körperliche Aktivität eingeschränkt wird. 

Die heute üblichen Behandlungen bekämpfen zwar die Symptome, sei es durch Physiotherapie oder durch das operative Einsetzen von künstlichen Verschlüssen. Die neue Behandlung aber packt das Problem an der Wurzel: Die Mediziner entnehmen eine kleine Biopsie aus der Patientin, woraus das Forschungsteam die adulten Muskelstammzellen unter strengsten Reinraumbedingungen im Labor isoliert und vermehrt. Danach werden die Zellen in den Schliessmuskel der Blase gespritzt, wo sie den Schliessmuskel wieder aufbauen helfen. Die grössten Vorteile eines solchen Verfahrens: Der Körper regeneriert sich damit quasi selber. Da die Stammzellen von der behandelten, erwachsenen Person selber stammen, entfallen zudem ethische Probleme wie bei Stammzellen von Embryonen oder anderen Spendern. Die Gefahr von Komplikationen wie bei grossen chirurgischen Eingriffen sowie Nebenwirkungen bei medikamentösen Behandlungen können so ausgeschlossen werden. Und es besteht auch nicht die Gefahr, dass das Implantat vom Körper abgestossen wird, da das Gewebe ja aus körpereigenen Zellen entstanden ist.

Ein von langer Hand geplantes Projekt

Die Ursprünge des Projekts gehen auf das Jahr 2008 zurück, als Daniel Eberli an der Klinik für Urologie das Labor für Tissue Engineering (Gewebetechnik) gründete. Er hatte während eines mehrjährigen Forschungsaufenthalts in den USA Erfahrungen in diesem Bereich gesammelt und erkannt, dass diese Art der regenerativen Medizin auch in der Urologie eine grosse Zukunft haben könnte. 

«Corona war nicht Teil des
risk mitigation plan,
des Plans zur Risikominimierung
von MUS.I.C.»
Deana Mohr

2012 stiess die Zell- und Molekularbiologin Deana Mohr dazu. Mit ihrer Doktorarbeit über ein gemeinsames SNF-Projekt von Universität und ETH Zürich sowie des Biozentrums der Universität Basel konnte sie beweisen, dass die Transplantation von Muskelzellgewebe bei Tieren sicher und effizient ist: Die Zellen funktionieren und bleiben auch am Ort, an dem sie eingepflanzt werden. Kurz vor dem entsprechenden Doktoratsabschluss entschied Swissmedic 2015, dass die Therapie mit Auflagen am Menschen weiterentwickelt werden konnte. Das war die Geburtsstunde des Projekts MUS.I.C. und Deana Mohr blieb nicht nur dabei, sie bildete sich auch im Management klinischer Studien weiter, um das Projekt optimal begleiten zu können. 

Politische Probleme

Ziel war es von Anfang an, Forschungsgelder bei der EU zu beantragen. Denn die Forschung am Menschen ist sehr kostenintensiv und die Arbeit mit adulten Stammzellen sehr viel teurer als mit anderen. Doch nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative wurde die Schweiz teilweise aus den EU-Forschungsprogrammen ausgeschlossen. Durch die Unsicherheit sank die Chance, EU-Fördermittel zu bekommen für ein Projekt, das von der Schweiz aus koordiniert wird, auf ein Minimum. Für MUS.I.C. reichte es trotzdem: Im April 2016 wurde der Antrag eingereicht, im August sicherte die EU sechs Millionen Unterstützung zu. «Ich habe geschrien vor Glück», erinnert sich Mohr. Es war eine der wenigen Schweizer Projektkoordinationen, die in jenem Jahr EU-Fördergelder bekamen. 

Vom Labor über den Reinraum zur Klinik 

Inzwischen ist die Schweiz wieder vollständig assoziiert am EU-Forschungsprogramm – und das Projekt MUS.I.C. steckt in der Phase der ersten klinischen Studie. Im Januar 2020 wurden der ersten Patientin mittels Muskelbiopsie aus dem Unterschenkel Muskelgewebe in der Grösse eines halben Würfelzuckers entnommen. Im Labor des Innovationszentrums Wyss Zurich, das den Reinraum für das Projekt zur Verfügung stellt, wurden daraus die Vorläuferzellen herausgefiltert, im Inkubator vermehrt und dann mit der Trägersubstanz Kollagen vermengt. 

Drei bis vier Wochen dauert es, bis die Zellkulturen sich genügend vervielfacht haben. Der Soll-Wert liegt bei 80 Millionen Zellen. Kurz vor dem schweizweiten Lockdown im März konnten die Zellen in den Blasenschliessmuskel der ersten Patientin injiziert werden. Danach wurde der Muskel während sechs Wochen durch elektromagnetische Impulse stimuliert. Bis Ende November werden sieben der für die erste klinische Phase vorgesehenen Patientinnen behandelt sein. Weitere Patientinnen werden zurzeit noch rekrutiert: Auf der Projektwebseite www.music2020.ch können sich Interessentinnen für die Studie anmelden.

Insgesamt 22 Spezialistinnen und Spezialisten in fünf verschiedenen europäischen Ländern sind dabei im Einsatz: Das Unternehmen Collagen Solutions im schottischen Glasgow entwickelt und produziert Kollagenkomponenten für den Einsatz in der regenerativen Medizin, in Medizinprodukten und der Forschung. Für das MUS.I.C.-Team in Zürich hat es ein System zur Herstellung von Kollagen aus humanen Fibroblasten mit Hohlfaserzellkulturen entwickelt und optimiert. Ausserdem arbeitet das Unternehmen zusammen mit dem Universitätsspital an der Entwicklung einer Spritze, die das Mischen von Kollagen und Zellen direkt am Injektionsort ermöglicht.

Zweite Partnerin ist das Universitätsinstitut für Transfusionsmedizin der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg. Sie ist spezialisiert auf die Entwicklung und Herstellung von Blutprodukten und Zelltherapeutika. Für MUS.I.C. liefert sie das humane Plättchenlysat, das so genannte Pooled Human Platelet Lysate oder pHPL. Diese Substanz aus Blutplättchen stimuliert die Vermehrung der Zellen. 

«Der maximale Effekt stellt sich
zwischen drei und sechs Monaten
nach dem Eingriff ein.»
Florian Schmid

Die Firma Scinus Cell Expansion B.V. in Holland entwickelt eine Bioreaktor-Technologie, welche die Herstellungskosten der bis heute sehr teuren Zelltherapie senken soll. Dem Projekt MUS.I.C. stellt sie ein kostengünstiges Protokoll für die Produktion und Kultivierung der Muskelvorläuferzellen zur Verfügung.

Die Universitätsklinik für Urologie der Eberhard Karls Universität Tübingen wiederum bringt ihre Expertise in der Behandlung von Belastungsinkontinenz in MUS.I.C. ein. Die deutsche Forschungsgruppe entwickelt eine neue Technologie, mit der die Zellen nicht mit Nadeln injiziert, sondern in das Gewebe gesprüht werden. Dies soll zu einer besseren Verteilung und genaueren Dosierung im Schliessmuskel sorgen.

Eine langfristige Verbesserung der Lebensqualität in Sicht

Den Hauptteil der Arbeit aber macht das Team in Zürich. Neben Daniel Eberli und Deana Mohr sind sieben weitere Personen in vollem Einsatz. Florian Schmid, Assistenzarzt in Urologie, ist schon seit 2017 dabei. Er hat sich während der Planungsphase vor allem den ethischen Fragestellungen gewidmet und zeichnet für den klinischen Teil der Studie verantwortlich, d.h. er wählt die Patientinnen aus, behandelt sie und betreut sie auch danach, um die Effizienz des Eingriffs zu verfolgen. «Der maximale Effekt stellt sich zwischen drei und sechs Monaten nach dem Eingriff ein», schildert er. Und wie lange wird er anhalten? Hier kann Schmid erst schätzen. Je nach Patientin, so meint er, würden schon ein bis fünf Jahre sehr helfen. Erhofft wird natürlich eine lebenslange Heilung.

Auch Jenny Prange ist schon seit 2017 dabei. Sie ist Leiterin der Produktion im Standard, der so genannten Good Manufacturing Practice, kurz GMP. Sie ist also verantwortlich für den Aufbau und die Verarbeitung der GMP-konformen Produktion von Muskelvorläuferzellen. Schon in der Projektphase führte sie die Protokolle, als sämtliche Materialien im Labor für den Einsatz im Reinraum getestet und spezifiziert werden mussten. In der klinischen Phase ist sie nun für das arbeitstechnische Monitoring des Reinraums zuständig. Prange hat in Integrativer Molekularer Medizin an der Universität Zürich promoviert und ihr Wissen in der Stammzellenforschung bei Roche vertieft. 

Zwei technische Mitarbeitende, eine Studienkoordinatorin, eine Gynäkologin und ein Businessentwickler vervollständigen das Team. Letzterer, Steve Kappenthuler, ist wie auch Jenny Prange Gründungsmitglied des Spin-offs MUVON Therapeutics AG von Deana Mohr.

Ein Name als Motivation für die Zukunft

MUVON ist ein Akronym für Muscle, Volt und on von switch on, also für den Muskel, der mithilfe von elektromagnetischer Stimulation aktiviert wird. Zugleich ist der Name phonetisch ein Aufruf: Move on – mach vorwärts! Das Unternehmen hat zunächst zum Ziel, die regenerative Behandlung von belastungsbedingter Inkontinenz zu vermarkten. Künftig möchte man die autologe, also dem eigenen Körper entnommene Transplantation von Zellen aber auch auf andere Skelettmuskeln ausdehnen. Und was motiviert Deana Mohr persönlich, sich jeden Tag und auf lange Sicht hinaus so stark zu engagieren? Nicht nur, dass das Projekt «from bench to bedside» führt, wie man in der Wissenschaft sagt, Errungenschaften aus dem Labor also direkt in der Praxis umgesetzt werden können, fasziniert sie. «Dass körpereigene Zellen zu funktionsfähigem Gewebe werden und so Krankheiten heilen können», fügt sie an. Das sind ja auch schlicht grossartige Aussichten.

Interview mit Deana Mohr-Haralampieva
Deana Mohr-Haralampieva

Deana Mohr-Haralampieva ist klinische Projektmanagerin und Koordinatorin des Horizon 2020-Projekts MUS.I.C. an der Universität Zürich, das eine regenerative Behandlung mit körpereigenen Zellen zur Behandlung von belastungsbedingter Inkontinenz entwickelt. Sie leitet ein Projektteam von Expertinnen und Experten in fünf europäischen Ländern. Ausserdem ist sie CEO des im Oktober 2020 gegründeten Spin-off MUVON Therapeutics AG, das die Zelltherapie künftig vermarkten und weiterentwickeln soll. Mohr hat an der Universität Konstanz studiert und einen Master in Zellular- und Molekularbiologie. Ihre Doktorarbeit machte sie am Institut für Pharmazeutische Wissenschaften der ETH Zürich und im Labor für Tissue Engineering von Prof. Dr. Dr. Daniel Eberli. Thema war die Sicherheit und Effizienz der Transplantation von Muskelzellgewebe bei Tieren. Die Ergebnisse dieser Arbeit führten zur Genehmigung der MUS.I.C.-Studie am Menschen und motivierten sie zu einer Weiterbildung im Management klinischer Studien. Deana Mohr ist verheiratet und Mutter von zwei kleinen Kindern.

Horizon 2020 Projekt

MUS.I.C.:  Multisystem Cell Therapy for Improvement of Urinary Continence

  • Projektart: Kollaboratives Projekt (5 Partner)
  • Dauer: 60 Monate
  • Beitrag für die Universität Zürich: 4’260’357 €

music2020.ch

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