Satelliten-Auswertung «auf Anfrage»
Der Erdwissenschaftler Andrea Manconi entwickelt mit seinem Team für das EU-Projekt BETTER einen Algorithmus, der Satellitendaten auswertet, um Naturereignisse wie Erdrutsche frühzeitig erkennen zu können.
Als Ende September 2016 auf der Moosfluh, 2333 Meter über Meer und mitten in der Aletsch-Arena, der Berg ins Rutschen geriet, erschraken nicht nur die Betreiber der Seilbahn und die Behördenvertreter der betroffenen Walliser Gemeinde Riederalp. Auch für die Wissenschaftler der ETH Zürich, die das Gebiet seit Jahren erforschen, kam diese starke Erdbewegung unerwartet. «Das war erstaunlich», sagt Andrea Manconi. Die Geschwindigkeit, mit der sich auf der Moosfluh das Gestein bewegte, habe auch ihn überrascht. Instabile Hänge sind das Spezialgebiet des sardischen Geophysikers und Experten für Satellitendaten, der seit fünf Jahren am Departement Erdwissenschaften der ETH Zürich forscht. Kippende Hänge gibt es überall auf der Welt. Auslöser sind zum Beispiel Erdbeben, Vulkanausbrüche, langanhaltende Regenfälle – oder die Erderwärmung, die den Aletschgletscher schrumpfen lässt.
Moosfluh rutscht viel schneller als angenommen
Wir sitzen in einem Seminarraum im altehrwürdigen Gebäude des Departements Erdwissenschaften. Doktorand Nikhil Prakash sieht seinen Betreuer Andrea Manconi an diesem Tag Mitte Juni nach drei Monaten zum ersten Mal wieder. Während des Lockdowns haben sie sich nur über Videokonferenzen ausgetauscht. Die beiden begrüssen sich – froh darüber, sich wieder treffen zu können – mit der gebotenen Distanz im Parterre des prächtigen viergeschossigen Lichthofs, der bei dieser Leere und Stille noch erhabener wirkt als sonst.
«Die Natur richtet sich nicht
nach dem Menschen.»
Andrea Manconi startet seinen Computer und zeigt mit einer dreidimensionalen Simulation, wie sich der Aletschgletscher gemäss den Berechnungen der ETH-Glaziologen weiter zurückziehen wird – bis im Jahr 2100 (in 80 Jahren) noch ein paar mickrige Eisfelder übrig sind. Dann zeigt er in einem Zeitraffer, wie der Moosfluhhang im September 2016 abrutschte. Es sieht aus, als ob sich der Hang selbst nicht mehr hätte halten können und deshalb seine äussere Gesteinsschicht abwerfen musste.
Dass die Gletscherschmelze dem Berg einen Teil seines Fundaments entzieht, weiss man. Erdwissenschaftler haben mit der Hilfe von Satellitendaten im Jahre 2010 entdeckt, dass sich die Erde in der Nähe der Zunge des noch existierenden längsten Gletschers Europas verformt. Professor Simon Löw und sein Team untersuchen das Gebiet, um die Interaktion zwischen Gletscherrückzug und Hanginstabilität zu verstehen und um künftige Entwicklungen besser voraussagen zu können. Neun Monate vor dem spektakulären Hangrutsch war die neuste Version der Gletscherbahn eröffnet worden, eine «technische Meisterleistung», wie die Betreiber auf ihrer Webseite verkündeten. Die Bahn wurde so gebaut, dass die Spezialkonstruktionen bei der Mittel- und Bergstation die aufgrund der Gletscherschmelze von den Geologen prognostizierten Erdsenkungen in den nächsten 25 Jahren auszugleichen vermögen: Die Bergstation lässt sich elf Meter horizontal und neun Meter vertikal verschieben. Und kurz darauf dann diese unerwartete, heftige Beschleunigung. «Die Natur richtet sich nicht nach dem Menschen», sagt Manconi lakonisch. Nach dieser Bewegung aus der Tiefe, welche die Erde an manchen Stellen weit aufgerissen und Felsbrocken auf Wanderwege fallen liess, ergaben Feldmessungen vor Ort sowie die Auswertung von Satellitendaten: Der Berg ist im Jahr 2016 nicht nur 20 bis 30 Zentimeter pro Jahr gerutscht wie angenommen, sondern 70 bis 80 Zentimeter pro Tag.
Jedes Ereignis löst verzögerte Reaktionen aus
Die Erdkugel ist in ständiger Bewegung, im Innern brodelt sie, die Kontinente verschieben sich, die Pole wandern. Jedes Ereignis, sei es ein Erdbeben, ein Vulkan oder ein schmelzender Gletscher, löst auf der Erdoberfläche eine Reaktion aus. Die Erdoberfläche, auf der sich der Mensch eingerichtet hat, reagiert oft verzögert auf Ereignisse. «Wir wissen zwar, dass durch den Rückzug des Aletschgletschers etwas geschehen wird, wir wissen aber nicht, wann, wo und wie gross die Bewegung sein wird», erklärt Manconi. Die Erdwissenschaftler sehen nur die berühmte Spitze des Eisbergs: Aufgerissene Wiesen, bröckelnde Felsen, rutschende Hänge. «Was sich darunter in der mächtigen Masse abspielt, ist nicht einfach zu untersuchen und liegt oft im Dunkeln.» Deshalb ärgert es Manconi manchmal, wenn die Erdwissenschaftler dafür kritisiert werden, dass ihre Prognosen nicht stimmen oder sie keine langfristigen Bewertungen machen können. Ein Meteorologe könne ja auch nicht voraussagen, ob es in einem halben Jahr regne oder nicht. «Die Natur ist nun mal eigensinnig.»
Mit Satellitendaten Erdverschiebungen überwachen
Andrea Manconi versucht, die Erdbewegungen zumindest etwas berechenbarer zu machen. Er möchte solche Überraschungen wie auf der Moosfluh verhindern helfen. Mit dem Projekt BETTER, welches das EU-Forschungsprogramm Horizon 2020 finanziert, entwickeln Andrea Manconi und Doktorand Nikhil Prakash mit fünf Partnern einen digitalen Verarbeitungsdienst, der zum Beispiel lokalen Behörden helfen soll, Risikogebiete auszuweisen, um vorausschauend ein Management für wahrscheinliche Naturereignisse aufzubauen. Die Projektpartner befassen sich thematisch mit Naturgefahren, Ernährungssicherheit sowie mit der Aussen- und Sicherheitspolitik der EU. Um Naturereignisse berechenbarer zu machen, eignen sich Satellitendaten.
«Wir wissen nicht,
wann, wo und wie gross
die Bewegung sein wird.»
Damit das Ausmass der Hanginstabilität auf der Moosfluh weiter untersucht werden kann, hatten die Forscher zum Beispiel Radarbilder der Satellitenmission Copernikus Sentinel-1 kurz vor und nach dem Ereignis mit einer virtuellen Plattform der Europäischen Weltraumorganisation analysiert und damit eine Geschwindigkeitskarte der Erdbewegung erstellt. «Damit können wir die räumliche Entwicklung von Oberflächenverschiebungen überwachen und für die Zukunft besser interpretieren», sagt Andrea Manconi.
Satellitenradargeräte machen spezielle Bildaufnahmen: Sie messen die Distanz zwischen dem Satelliten und der Erdoberfläche auch bei Nacht und auch durch Wolken hindurch. Dadurch lassen sich Erdverschiebungen über beliebige Zeiträume bemessen und zum Beispiel die Entwicklung von Berghängen während einer bestimmten Zeit beobachten. Die europäischen Satelliten machen alle sechs Tage Radaraufnahmen. Aber wenn die Entwicklung eines Geländes sehr schnell ist – wie auf der Moosfluh – müssen sie manchmal mit Echtzeit-Messungen vor Ort kombiniert werden, um etwa eine präzisere Geschwindigkeitskarte zu erstellen.
Von den Satellitendaten zum Staudammprojekt
Hätten die lokalen Behörden Zugang zu solchen Karten, könnten sie vorausschauend Risikomanagement betreiben oder heikle Grossprojekte besser planen. In Bhutan hat man zum Beispiel auch aufgrund der an der ETH Zürich analysierten und interpretierten Satellitendaten ein wichtiges Staudammprojekt evaluiert. Das EU-Projekt BETTER zielt darauf ab, dass auch Länder mit geringeren Fachkompetenzen in der Bearbeitung von Satellitendaten Zugriff auf Auswertungen und Karten ihrer «aktiven» Gebiete haben, um entsprechend reagieren zu können. Manconi vergleicht dieses Vorgehen mit der Corona-Krise: «Das Virus hat uns überrascht. Aber jetzt wissen wir, wie wir uns schützen können, so dass wir für eine nächste Welle besser vorbereitet sind.» Die Menge an Erdbeobachtungsdaten – kurz EO-Daten genannt – ist so gross, dass ein Laie damit überfordert ist, abgesehen davon, dass niemand, der nicht eine Ausbildung in der Auswertung von Satellitendaten absolviert hat, diese Radardaten analysieren und interpretieren kann. Deshalb findet es Manconi so wichtig, dass die Studierenden in der Auswertung von Satellitendaten geschult werden, denn «Erdbeobachtungsdaten werden immer mehr zur Lösung globaler gesellschaftlicher Herausforderungen genutzt.» Für ihn sollten moderne Erdwissenschaftler fähig sein, mit einer grossen Menge unterschiedlicher Datenquellen umzugehen und sie in kurzer Zeit auszuwerten, damit Analysen rasch zur Verfügung stehen. Er selber hat an der ETH Zürich einen solchen Kurs aufgebaut.
Plattform für gewünschte Satelliten-Auswertung
Für die Laien in den Gemeindebehörden in einem Gebiet mit Gefahrenzonen sucht das Projekt BETTER eine andere Lösung: Künstliche Intelligenz. Daran tüftelt Ingenieur Nikhil Prakash, der sich schon während seines Masterstudiums in Indien mit der digitalen Kartierung befasste. Ziel des Projekts ist, dass die Künstliche Intelligenz zum Beispiel nach Anfrage einer Gemeindebehörde die Satellitendaten des gewünschten Gebiets systematisch analysiert und dann eine Karte von Erdrutschen in diesem Gebiet erstellt. «Wir entwickeln einen Algorithmus für eine Plattform, die Satelliten-Auswertung on demand anbietet», ergänzt Manconi. So könne die Künstliche Intelligenz zum Beispiel nach einem Erdbeben die Satellitendaten des ganzen Erdbebengebiets analysieren, um Erdrutschgefahren zu kartieren, erklärt Nikhil Prakash. «Die Maschine ist besser als der Mensch, weil sie in kurzer Zeit Ergebnisse über grosse Flächen liefert, deren Analyse sehr lange dauern oder viele Experten benötigen würde.» Nikhil Prakash hat einen Algorithmus entwickelt, der selber dazu lernt. So wie der Algorithmus für die Gesichtserkennung lerne, menschliche Gesichter von nicht menschlichen zu unterscheiden, lerne sein Algorithmus aufgrund der Satellitendaten, zum Beispiel, rutschende Hänge von nicht rutschenden Hängen zu unterscheiden und in einer Karte wiederzugeben.
Was beide Wissenschaftler am EU-Projekt, das Ende Oktober ausläuft, fasziniert, ist, dass es sich nicht um reine akademische Forschung handelt, sondern dass sie ein Instrument für die Praxis entwickeln dürfen. «Mir war es immer wichtig, dass das, was wir erforschen, in der Praxis angewandt werden kann», sagt Manconi.
Aus dem gleichen Grund ist es ihm ein grosses Anliegen, dass die Erdwissenschaftler lernen, den Laien die Analysen und Interpretationen ihrer Forschung verständlich zu erklären. Seine Vorbilder sind die Meteorologen, die im Fernsehen oder Radio Wetterphänomene in allgemein verständlicher Sprache zu erklären vermögen, so dass jeder Laie danach auch darüber reden könne. «Auch wir befassen uns mit Naturphänomenen, die uns alle betreffen können. Deshalb ist es wichtig, dass man versteht, was wir erforschen und was wir herausfinden», sagt er. Andrea Manconi hat bei jeder Präsentation vor Behörden Bilder von Erdrutschen, Simulationen von schmelzenden Gletschern oder Gefahrenkarten dabei. Bilder, sagt er, helfen, das Abstrakte besser zu verstehen.
Interview mit Andrea Manconi (in englischer Sprache)
Andrea Manconi
Andrea Manconi studierte Umweltingenieurwissenschaften an der Universität Cagliari in Sardinien (Italien) und promovierte 2009 in Geophysik an der Universität Potsdam (Deutschland). In seiner Forschung befasst er sich vor allem mit der Analyse, Interpretation und Modellierung von deformierter Erdoberfläche aufgrund natürlicher Phänomene in Gebieten mit Vulkanen, Erdbeben oder Hanginstabilität. Seit fünf Jahren forscht er an der ETH Zürich im Departement Erdwissenschaften. Das dreijährige Projekt BETTER, das die EU mit fast zwei Millionen Euro unterstützt, endet im Herbst dieses Jahres
(ec-better.eu/pages/better-project). Neben der ETH Zürich sind fünf weitere Forschungspartner, darunter auch das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen, beteiligt.
Link zum Lehrstuhl von Simon Löw:
engineeringgeology.ethz.ch/
Link zum neu aufgebauten Satellitendaten-Kurs von Andrea Manconi:
vorlesungsverzeichnis.ethz.ch/lerneinheit.view?lerneinheitId=136983&
semkez=2020S&ansicht=KATALOGDATEN&lang=de
Ein Artikel über die Evaluation des Staudammprojekts in Bhutan von Andrea Manconi und seiner Fachkollegschaft erschien im Mai 2020 im Fachblatt «Nature»:
nature.com/articles/s41598-020-65192-w
Horizon 2020 Projekt
BETTER: Big-data Earth observation Technology and Tools Enhancing Research and development
- Projektart: Kollaboratives Projekt
- Dauer: 36 Monate
- Beitrag für die ETH Zürich: 199’650 €