Wie individuell gesteuerte Apps die Resilienz fördern können
Ein multidisziplinäres Team von 15 Forschenden in sechs Ländern arbeitet in einem Horizon 2020-Projekt daran, Prozesse, die zu psychischer Gesundheit und Resilienz beitragen, mathematisch zu modellieren. Ziel ist eine personalisierte App, mit der Risikopersonen ihre Stressresilienz trainieren können. Die vielleicht spannendste Rolle hat dabei die Psychologin und Professorin Birgit Kleim von der Universität Zürich.
Ihr Arbeitsplatz liegt im Dachgeschoss der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, einem über 150 Jahre alten Gebäude hoch über dem Zürichsee. Die Holzbalken des Dachstuhls, ein halbrundes Fenster sowie farbenfrohe Bilder verleihen dem Raum eine wohnliche Atmosphäre. Ein willkommener Kontrast zur näheren Umgebung: Birgit Kleim ist Professorin für Experimentelle Psychopathologie und Psychotherapie und Leiterin des Psychologisch-Psychotherapeutischen Dienstes der Klinik, die im Volksmund «Burghölzli» heisst. Hier arbeiten Ärzte, Psychologen und Pflegepersonal rund um die Uhr mit psychisch schwer erkrankten Menschen.
Das internationale Forschungsprojekt, mit dem sich die gebürtige Deutsche und ihr Team seit über drei Jahren beschäftigen, liegt jedoch im Bereich der mehrheitlich gesunden Menschen. Dynamore heisst es, ein Akronym für Dynamic Modelling of Resilience oder Dynamische Modellierung der Resilienz – und resilient, also widerstandsfähig gegenüber Problemen, sind meist mehr als die Hälfte der Menschen: Sie können mit den Widrigkeiten des Lebens umgehen und finden auch nach einem traumatischen Ereignis wie etwa einem Verkehrsunfall, Verlust eines nahestehenden Menschen oder einer Naturkatastrophe relativ schnell zum normalen Funktionsniveau zurück.
«Von diesen gesunden und resilienten Personen versuchen wir zu lernen», erklärt Birgit Kleim. «Wir könnten durch dieses Wissen psychische Erkrankungen und möglicherweise schwere chronische Verläufe verhindern und damit persönliches Leid und finanzielle Kosten sparen.» Der Ansatz orientiert sich also an der Gesundheit und nicht an der Krankheit. Die Forschenden versuchen nicht, eine bestehende Krankheit zu heilen. Sie wollen vielmehr psychische Probleme vermeiden helfen, und zwar mit einer personalisierten App, die alle auf dem Smartphone jederzeit bei sich tragen und nutzen können.
Ein Projekt mit vielen Facetten
Der Plan ist bestechend: Gesunde Personen werden beobachtet, wie sie sich in belastenden Lebensphasen verhalten. Dazu gehören der Übergang ins Hochschulalter oder eine fordernde Berufsausbildung wie bei der Polizei oder in der Notfallmedizin. Aber auch Unfallopfer wurden bereits in ihrem Genesungsprozess überwacht. Die Daten – psychologische, verhaltensbezogene, neuronale und physiologische – werden gesammelt und mathematisch aufbereitet, d.h. modelliert. Mit den Modellen wird eine App entwickelt, die die Nutzerinnen und Nutzer gezielt und individuell leitet und ihnen wenn nötig automatisch eine sogenannte Intervention, eine Massnahme zum Training und zur Förderung von Resilienz, anbietet. Auf diese Weise sollen negative Verläufe und psychische Erkrankungen verhindert werden.
«Solche Fragen zwingen einen,
sich aus einer anderen
Perspektive mit der
Sache auseinanderzusetzen.
Dies ist total bereichernd.»
Um dieses Ziel zu erreichen, arbeiten Forschende aus ganz verschiedenen Bereichen zusammen. Denn es braucht die Expertise in psychischer Gesundheit und im biologischen und psychosozialen Bereich, aber auch in der Mathematik, der Computermodellierung und Simulation, der Datenintegration und in der Gesundheitstechnologie.
Kleim ist es gewohnt, über ihre Disziplingrenzen hinaus zu denken. In einem anderen Projekt an der Universität Zürich arbeitet sie mit Grundlagenwissenschaftlern, Pharmakologen und Tierwissenschaftlern zusammen. «Wir lernen sehr viel voneinander und kommen viel weiter, als wenn wir nur in einer Disziplin arbeiten würden», meint sie. Die Fragen seien ja auch anders. Die Mathematiker etwa wollten wissen, wie sich ein prototypischer Patient verhalte, wenn er einen bestimmten Stress erlebt. «Solche Fragen zwingen einen, sich aus einer anderen Perspektive mit der Sache auseinanderzusetzen. Dies ist total bereichernd», findet Kleim und ist überzeugt: Solch interdisziplinäre Forschung ist die Zukunft der Wissenschaft.
Die Nachfrage übersteigt das Angebot
Warum aber versucht man, Interventionen mit einer App unter die Menschen zu bringen? Schaffen sich die Psychotherapeutinnen und -therapeuten damit nicht selber ab? Kleim verneint: «Das ist eine Frage, die oft gestellt wird.» Die Psychotherapie und auch Angebote der Prävention habe zwei Probleme, erklärt sie. «In der Psychotherapie erreichen wir letztlich nur einen Teil der Patienten, die eine Therapie brauchen. Viele Personen gehen trotz Problemen nicht zur Therapie. Manche dieser Personen können wir durch Smartphone- und Internet-basierte Interventionen erreichen und ihnen helfen.»
Der zweite Punkt betrifft das Ausmass des Bedarfs an Therapien. Es gibt grosse Wartelisten für Therapieplätze. Dadurch kommen viele Patienten erst Jahre nach Ausbruch der Krankheit zu einer Behandlung, wenn die Erkrankung schon chronisch ist und die Personen schon soziale Probleme haben, vielleicht bereits die Arbeit oder die Partnerin, den Partner verloren und sich weitere Symptome eingestellt haben. Solche Probleme könnte man vielleicht früh abfangen mit der App. Und: In der Therapie strebt man auch den kombinierten Ansatz mit einer Psychotherapie und der Hilfe der App zwischen den einzelnen Sitzungen an. Die App ist also keine Konkurrenz, sondern eine willkommene Erweiterung in der Psychotherapie.
Wissenschaftliche Arbeit ist kreativ
Nun steht das Projekt in der Halbzeit – und kann schon handfeste Resultate vorweisen. Kleim holt aus: «Wir brauchten mindestens ein Jahr, um die Studie vorzubereiten. Dadurch hatten wir schon viele Vorüberlegungen gemacht – und konnten auf eine Vorgängerstudie zurückgreifen.» Aus dieser zogen die Kollegen in Mainz und Freiburg mathematische Daten und verarbeiteten sie zu Faktoren, die zeigen, was Resilienz ausmacht. Diese Faktoren haben sie dem Team von Birgit Kleim geliefert. Dessen Arbeit war es dann, diese Faktoren gezielt durch eine Intervention zu verändern und diese Interventionen erst zu kreieren.
«Viele Personen gehen
trotz Problemen nicht
zur Therapie.
Manche dieser Personen
können wir durch Smartphone-
und Internet-basierte Interventionen
erreichen und ihnen helfen.»
Der erste Faktor war die sogenannte «positive reappraisal», die positive Umbewertung einer Erfahrung. Der zweite Faktor war die Belohnungssensitivität, in der Fachsprache «reward sensitivity». Die Doktorandin Marta Marciniak kreiert nun damit zwei verschiedene Apps, die sie fortlaufend von den Testpersonen ausprobieren lässt – vornehmlich Studierende aus Zürich, aber auch aus dem Ausland wie etwa Polen. Deren Feedback fliesst jeweils direkt in die Weiterentwicklung ein.
Die junge Frau aus Polen ist sowohl für den Inhalt wie das Design der App zuständig. Ihre Begeisterung dafür ist greifbar, wenn sie ihre Arbeit schildert und uns auf ihrem Smartphone die momentane Version der App zeigt. «Es macht mir viel Spass, die App zu entwickeln», erklärt sie. Die Arbeit sei sehr kreativ, weil sie spielerisch verschiedene Versionen entwickeln könne. Das Beste allerdings sei, wenn sie sehe, dass die App wirklich helfe, dass Leute ihren Stress damit tatsächlich reduzieren könnten.
Wie tief lassen sich denn Testpersonen in ihr eigenes Leben schauen? «Man fängt mit einfachen Fragen an wie etwa ‹wie glücklich bist du?› etc.», schildert Marta Marciniak. «Dann fragen wir aber auch nach den physischen Aktivitäten, dem sozialen Umfeld, den grössten Schwierigkeiten und es gibt auch sehr persönliche Fragen.» Sie ist aber überzeugt, dass die Befragten gerne ihr Leben mit ihr teilen. Denn sie wissen, dass alles anonym bleibt. Selbst Marciniak weiss nicht, von wem die jeweiligen Antworten kommen.
«Dies ist eine der wichtigsten
Fragen des Projekts,
deren Antwort wir versprochen
haben zu liefern.»
Mit den Antworten entwickeln die beiden Wissenschaftlerinnen und ihre europäischen Kolleginnen und Kollegen des Dynamore-Projekts die Intervention schrittweise weiter. Ecological Momentary Intervention oder ökologische Momentintervention, kurz EMI, nennen die Forschenden die mechanistischen Therapiewerkzeuge via Mobiltelefon. Ökologisch steht hier für den Alltag gegenüber der Praxisatmosphäre: Die Massnahmen werden ja im natürlichen Leben angeboten und nicht in therapeutischer Umgebung.
Dahinter steht ein Algorithmus
Wer aber fällt den Entscheid, wem geholfen werden muss bzw. wann die App eine EMI anbietet? «Dies ist eine der wichtigsten Fragen des Projekts, deren Antwort wir versprochen haben zu liefern», erklärt Birgit Kleim. «Basierend auf dem Modell wollen wir einen Entscheidungsalgorithmus entwickeln, der sagt: Jetzt ist diese Person über einen Grenzwert hinaus gestresst. Und dann wird die Intervention getriggert und angeboten.» Die Nutzerin oder der Nutzer kann sie aber auch per Knopfdruck verschieben, wenn die Intervention gerade in einem für die Person unpassenden Moment angeboten wird, beispielsweise während einer Prüfung.
Das fertige Produkt soll kommerziell genutzt werden. Potenzielle Abnehmer sind nicht nur die Polizeikorps für ihre Polizistinnen und Polizisten im ersten Ausbildungsjahr. Auch Universitäten könnten die App ihren Studierenden anbieten, Altersheime dem Pflegepersonal und Notfallstationen ihren Pflegefachleuten. Zudem könnten kommerzielle Unternehmen Interesse haben, ihren Mitarbeitenden dieses Tool anzubieten, um Resilienz in der Arbeitswelt zu fördern und mögliche Arbeitsausfälle zu verhindern.
Fest steht schon heute: Die andauernde Pandemie hat uns alle gelehrt, was Resilienz ist und wie wichtig sie in Zeiten wie diesen sein kann. Smartphone-basierte Interventionen, mit denen viele Menschen ihre Resilienz trainieren können, haben also fraglos grossen Wert.
Interview mit Birgit Kleim
Birgit Kleim
Birgit Kleim ist seit 2016 Professorin für Experimentelle Psychopathologie und Psychotherapie an der Universität Zürich und Vorsitzende der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie. 1975 in Marburg, Deutschland, geboren, hat sie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg studiert und am King’s College London zur Posttraumatischen Belastungsstörung doktoriert. Danach arbeitete sie drei Jahre als Research Fellow am Institute of Psychiatry des King’s College und am Maudsley Hospital in London. 2009 wechselte sie als Oberassistentin an die Universität Basel. Seit 2010 ist sie am Psychologischen Institut der Universität Zürich. Birgit Kleim ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Horizon 2020 Projekt
DynaMORE: Dynamic modelling of resilience
- Projektart: Kollaboratives Projekt (12 Partner)
- Laufzeit: 1. September 2019 – 31. August 2023 (48 Monate)
- Beitrag für die Universität Zürich: 562’553 €