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Long COVID auf der Spur

Was sie über die Wirkung von SARS-CoV-2 auf das Gehirn entdeckt und wie sie als Forscherin einer Schweizer Hochschule an einem Horizon-Europe-Projekt zu Long COVID mitwirken kann. Ein Portrait der Veterinärpathologin Anja Kipar, Professorin an der Universität Zürich.

Zwei Stunden Vorlesung zum Thema «Pathologie des Magens», Überprüfen der pathologischen Befunde eines tot aufgefundenen Milans und eines verstorbenen Rindes, Gespräche über Finanzen und Personaladministration, ein Videomeeting mit einem Forschungskollegen in Australien zu einem gemeinsamen COVID-19-Projekt: Anja Kipar hat schon ein dichtes Vormittagsprogramm absolviert, als sie uns in ihrem Institutsbüro auf dem Areal des Tierspitals der Universität Zürich empfängt. Die umtriebige Professorin für Veterinärpathologie trägt gleich mehrere Hüte und die damit verbundenen Verantwortungen: Als ordentliche Professorin hat sie Lehrverpflichtungen. Als Direktorin des Instituts für Veterinärpathologie leitet sie einen Dienstleistungsbetrieb zur Diagnostik von Tiererkrankungen, der auch als akkreditiertes Labor zur Tierseuchendiagnostik anerkannt ist und ein nationales und internationales Referenzzentrum beherbergt. Als Professorin leitet sie Forschungsteams, organisiert Forschungsprojekte und pflegt ein internationales Forschungsnetzwerk. Dazu kommt, dass sie bei der Diagnostik am Institut auch gerne selbst Hand anlegt. «Als Institutsleiterin muss ich auch diagnostisch auf dem Laufenden bleiben, daher habe ich jedes Jahr einige Wochen die Sektionsaufsicht», sagt sie. Wie wird Anja Kipar all den Ansprüchen gerecht? Wie managt sie ihre knapp 40 Mitarbeitenden? «Wir von der Pathologie arbeiten alle sowohl für die Diagnostik und Lehre als auch für die Forschung, mit unterschiedlicher Gewichtung, klar definierten Aufgaben und flachen Hierarchien. Das Laborteam wird von einer erfahrenen Laborantin und das Sekretariatsteam von einer ausgewiesenen Administratorin geleitet. Erfahrene Kolleginnen und Kollegen der Pathologie leiten die Sektionsdiagnostik, die Biopsie- und Zytologiediagnostik und die Elektronenmikroskopie-Einheit. Alle haben ihre Spezialgebiete. Wir bilden ja anhand des diagnostischen Materials auch die Tiermedizinerinnen und Tiermediziner aus, die an unserem Institut die vierjährige Weiterbildung zum Diplomate of the European College of Veterinary Pathologists durchlaufen und mit einer sehr anspruchsvollen europaweiten Prüfung abschliessen.»

Anja Kipar ist Pathologin aus Passion. Das Institut für Veterinärpathologie, das sich zu einem guten Teil selbst finanzieren muss, dient ihr als Schnittstelle zwischen Forschung und Praxis. Dazu hat sie, seit sie 2013 als Direktorin nach Zürich berufen wurde, die technische Infrastruktur systematisch weiter ausgebaut. Das Institut verfügt heute über modernste Geräte und Einrichtungen, die sowohl für die Diagnostik wie die Forschung verwendet werden und das Institut konkurrenzfähig halten.

Von Menschen und Mäusen

«Kommen Sie, ich zeige Ihnen unsere Labors», sagt Anja Kipar und führt uns ins Erdgeschoss, wo uns ihre Laborleiterin bereits erwartet. Sabina Wunderlin stellt mit ihrem siebenköpfigen Team, neben vielen anderen Arbeiten, aus den fixierten Organen der sezierten Tiere auch jene Präparate her, anhand derer die Fachleute der Pathologie dann ihre Analysen machen. Am Beispiel eines Forschungsprojekts zu COVID-19, das Anja Kipar mit einem Molekularvirologen der Universität Liverpool durchführt, demonstriert uns Sabina Wunderlin die Arbeitsschritte vom fixierten Gewebe bis zum histologischen Präparat. Konkret geht es hier um eine Omikron-BA2-Pathogenitätsstudie, für die Anja Kipar untersucht, wie sich das Virus in Mäusen ausbreitet. Dazu erhält sie von den Kollegen in Liverpool neben den Lungen die in Formalin fixierten Schädel experimentell infizierter Labormäuse. Sabina Wunderlin nimmt sorgsam einen Mäuseschädel aus dem Behälter und halbiert ihn mit einer feinen Diamantsäge, so dass die beiden Hirnhälften sichtbar werden. In mehreren Schritten werden die Schädelteile anschliessend entkalkt, entwässert und mit flüssigem Paraffin in kleine Blöcke gegossen. Von diesen werden an einem Mikrotom 2-3 µm dünne Schnitte hergestellt, im Wasserbad auf einen Glasobjektträger gezogen, in einem Spezialgerät vom Paraffin befreit und schnell maschinell gefärbt. Nach dem abschliessenden Eindecken sind die Präparate bereit für die pathologische Analyse unter dem Mikroskop oder als Scan am Bildschirm. Die Laborarbeit erfordert hohe Fachkenntnisse und viel Fingerspitzengefühl, auch wenn Sabina Wunderlin und ihrem Team dafür modernste Geräte zur Verfügung stehen.   

Am Anfang war die Katze

Zurück in ihrem Büro erzählt Anja Kipar, warum sie zu COVID-19 forscht. «Ich bin schon vor vielen Jahren über die Katze zur Coronavirusforschung gekommen, als ich in Leipzig und Giessen meine Habilitation zur Pathogenese der felinen infektiösen Peritonitis (FIP) schrieb – einer tödlichen Krankheit bei Katzen, die durch ein Coronavirus ausgelöst wird. Die FIP ist seit den 1950er Jahren bekannt, aber ihre Pathogenese ist noch immer nicht völlig geklärt.» Über die Jahre hat Anja Kipar mit Kollaborationspartnern in Grossbritannien und Zürich weiterhin zur Immunpathogenese der FIP geforscht und als dann Anfang 2020 das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 schlagartig eine Pandemie auslöste, war ihre Expertise gleich doppelt gefragt – als Forscherin, die bereits zu Coronaviren gearbeitet hatte und als renommierte, gut vernetzte und gut ausgerüstete Pathologin mit spezifischer Erfahrung in Mausmodellen Virus-bedingter Atemwegserkrankungen. Anja Kipar hat im Laufe ihrer Karriere an den Universitäten Liverpool und Helsinki nachhaltige Kooperationen mit Virologen aufgebaut und relevante Aspekte von Viruskrankheiten des Menschen erforscht. Diese Kollegen meldeten sich nun und baten sie, mit ihnen an geplanten Infektionsversuchen bei Labormäusen und Hamstern zusammenzuarbeiten, um die Pathogenese von COVID-19 zu klären. Die Wissenschaft stand damals unter enormem öffentlichen Erwartungsdruck, rasch Erkenntnisse zur Bewältigung der Pandemie zu liefern. Anja Kipar musste nicht lange überlegen und etablierte sogleich Protokolle, um die pathologische Auswertung dieser Versuche durchführen zu können. Im April 2020 startete die erste COVID-19-Studie mit der Universität Liverpool. Im Sommer 2020 folgten weitere COVID-19-Projekte mit der Universität Helsinki. Seither sind zahlreiche weitere Studien, auch zur Entwicklung von Vakzinen und zur Prävention und Behandlung der SARS-CoV-2-Infektion, dazugekommen. Welche Schlüsse zieht Anja Kipar aus dieser Forschungsarbeit zu COVID-19 der letzten Jahre? «Wir haben eine Fülle interessanter Ergebnisse gewonnen. Aber ganz besonders spannend finde ich die Erkenntnis, dass sich bei bestimmten Labormäusen die Infektion mit allen bisher bekannten Virusvarianten ausser Omikron nicht auf Nase und Lunge beschränkt, sondern sehr häufig – wahrscheinlich über das Riechhirn – das Gehirn erreicht und dort eine leichte Entzündungsreaktion auslöst, ohne Nervenzellen offensichtlich zu schädigen. Diese Ergebnisse haben wir kürzlich publiziert und jetzt wollen wir herausfinden, ob das Virus auch über längere Zeit im Gehirn verbleibt.»

Konsortium «Long COVID»

Inzwischen geht es in der Forschung aber längst nicht mehr nur um die unmittelbare COVID-19-Erkrankung. Viele Menschen entwickeln Long COVID als Langzeitfolge der Virusinfektion. Symptome sind Müdigkeit, Erschöpfung, Kopfschmerzen, Husten, Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns und kognitive Störungen. Die Diagnose und die Behandlung von Long COVID erweisen sich als schwierig, da das Krankheitsbild oft unspezifisch und individuell sehr unterschiedlich ist. Im September 2021 haben sich daher zwölf Hochschulen, Kliniken und Forschungslaboratorien aus Finnland, Deutschland, Estland, Italien, den Niederlanden und der Schweiz zu einem Konsortium zusammengeschlossen und bei der EU im Rahmen des Forschungsprogramms Horizon Europe ein Projekt eingereicht, das die offenen Fragen rund um Long COVID angehen soll. Mit dem Projekt will das Konsortium die Ursachen und Erscheinungsformen der Krankheit klären und den Ärztinnen und Ärzten praktisches Wissen sowie Hilfsmittel zur Diagnose und Behandlung von Long COVID bereitstellen. Anja Kipar und ihr Team sind Teil dieses Konsortiums und führen gemeinsam mit Virologen an der Universität Helsinki Studien durch, um mögliche Pathomechanismen zu identifizieren, die Long COVID zugrunde liegen. «Wir gehen von der Hypothese aus, dass entzündliche Reaktionen im Gehirn zentral sind für die Pathogenese von Long COVID. Ob das Virus diese direkt im Gehirn verursacht oder ob es im Körper systemische Reaktionen auslöst, die dann auf das Gehirn wirken, wissen wir noch nicht. Dies versuchen wir nun herauszufinden, indem wir uns den direkten Effekt des Virus auf Nervenzellen und die Wirkung der Infektion anderer Zellen auf Nervenzellen näher ansehen. Hierfür nutzen wir in-vitro-Systeme humaner Zellen und etablierte Maus-Infektionsmodelle sowie verschiedene Virusvarianten. Besonderes Gewicht legen wir auf die Analyse von Gewebeproben des Gehirns der infizierten Mäuse.» Für diese anspruchsvolle Analysearbeit hat Anja Kipar mit der Neuropathologin Frauke Seehusen und dem ultrastrukturellen Pathologen Udo Hetzel zwei hochspezialisierte Fachleute im Team. Die Infektionsversuche werden an der Universität Helsinki durchgeführt, die anschliessenden Untersuchungen in Zürich. Inzwischen ist das Projekt «Long COVID» gestartet. Im Frühsommer 2022 erhielt das Konsortium grünes Licht von der EU, Ende Juni fand das Kick-off-Meeting in Helsinki statt.

Mitwirken bei Horizon Europe

Viele Forschende in der Schweiz sind enttäuscht und verärgert, weil sie beim EU-Forschungsprogramm Horizon Europe zurzeit keine eigenen Projekte einreichen oder Projektkoordinationen übernehmen können. Als Retourkutsche auf den Abbruch der Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen hat die EU der Schweiz die volle Assoziierung bei Horizon Europe verweigert. Wie hat es denn Anja Kipar geschafft, beim ambitiösen Projekt «Long COVID» dabei zu sein? In Wirklichkeit ist der Ausschluss von Horizon Europe nicht so vollständig, wie er in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Schweizer Forschende können nach wie vor bei EU-Kooperationsprojekten als Partner mitwirken. Anja Kipar, die gerne in grossen Konsortien arbeitet, kommt dies sehr entgegen. «Meine Stärke lag schon immer in der interdisziplinären Zusammenarbeit. Sie ist für die Veterinärpathologie selbstverständlich. Wir kommen häufig von der Diagnostik, entwickeln ein Interesse an spezifischen Erkrankungen und gewinnen unsere Erkenntnisse überwiegend an Schnittstellen und in Zusammenarbeit mit anderen Expertinnen und Experten, seltener in grossen Einzelprojekten, wie sie zum Beispiel vom European Research Council ERC finanziert werden.» Anja Kipar hat sich als strategisch geschickte Netzwerkerin über die Jahre ein exzellentes internationales Kooperations- und Beziehungsnetz aufgebaut, über das sie immer wieder in neue interessante Projekte involviert ist. «Ich geniesse es, in diesen grossen, internationalen Konsortien zu arbeiten, wo man sich gegenseitig ergänzt, sich schätzt und vertraut. Sie sind die optimale Ergänzung zu meiner sonstigen Forschung, in der ich die Pathogenese einzelner relevanter Tiererkrankungen untersuche», bilanziert sie ihre Erfahrungen.

Bevor wir gehen, möchten wir von Anja Kipar noch wissen, wie ihr dichter Arbeitstag endet. «Eigentlich wollte ich mir noch den Vortrag eines Forschers von der London School of Tropical Medicine anhören, der heute in Zürich ist. Aber dafür ist es jetzt zu spät. Also fahre ich nach Hause, kümmere mich etwas um meine Familie – mal sehen, was wir zu Abend essen. Und dann muss ich dringend noch einige Anträge begutachten und ein Paper lesen!»

Interview mit Anja Kipar (in englisch)
Anja Kipar

Anja Kipar studierte von 1983 bis 1989 Veterinärmedizin an der Justus-Liebig-Universität Giessen mit dem ursprünglichen Ziel, später als Nutztierärztin auf dem Land zu praktizieren. Im Laufe des Studiums entdeckte sie ihre Faszination für die Pathologie und entschied sich für eine akademische Karriere als Veterinärpathologin. Sie promovierte 1994 und habilitierte 2002 am Fachbereich Veterinärmedizin der Justus-Liebig-Universität Giessen mit einer Forschungsarbeit zu einer Katzenviruskrankheit. Zwischen 2001 und 2013 war sie als Senior Lecturer und dann als Professor of Veterinary Pathology an der University of Liverpool tätig. Im Anschluss, zwischen 2011 und 2013, war sie Professor of Veterinary Pathology an der Universität Helsinki. 2013 wurde Anja Kipar als ordentliche Professorin für Veterinärpathologie und Direktorin des Instituts für Veterinärpathologie an die Universität Zürich berufen.
Ihre Forschungsschwerpunkte sind aktuell neben COVID-19 die feline infektiöse Peritonitis (FIP), eine Coronavirus-induzierte Infektionskrankheit bei Katzen, die feline hypertrophe Kardiomyopathie, eine Herzerkrankung bei Katzen, und die Reptarenavirus-assoziierte Einschlusskörperchenerkrankung bei Riesenschlangen.
Anja Kipar hat zwei Söhne im Teenageralter.

Horizon-Europe-Projekt

Long COVID: Decision support for prediction and management of Long Covid Syndrome (LCS)

  • Projektart: Kollaboratives Projekt mit 12 Partnern
  • Laufzeit: 1. Juni 2022 – 31. Mai 2026 (48 Monate)
  • Beitrag für die Universität Zürich (vom SBFI finanziert): 494’750 €
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