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Reichen ein paar Nerven für Intelligenz und Gefühl?

Giacomo Indiveri, Professor am Institut für Neuroinformatik der Universität Zürich und der ETH Zürich, versucht mit seinem Team die neuronalen Strukturen im Gehirn zu verstehen, um mit künstlichen Neuronen effizientere und spontan reagierende Computer zu bauen. Ohne die Unterstützung durch EU-Projekte, sagt er, würde sein Institut heute nicht zur Weltspitze gehören. 

Herr Indiveri, Sie waren kürzlich am EU-Workshop «CapoCaccia» in Sardinien. Worum ging es da? 

Giacomo Indiveri: Es war eine Art Summer School, die unser Institut im Rahmen des ERC Consolidator Grant «NeuroAgents» organisierte. Wir haben Computer- und Neurowissenschaftler, Mathematiker, Robotiker und andere Fachpersonen zusammengebracht, um gemeinsam über Fragen in unserer Forschung nachzudenken. Wir haben im Hotel ein technisches Labor eingerichtet – vor dem Eingang begrüsste uns jeden Tag der humanoide Roboter iCub, der am Italienischen Institut für Technologie (IIT) ebenfalls im Rahmen eines EU-Projekts entwickelt wurde. Die Studierenden programmierten, sie simulierten neuronale Schaltkreise, arbeiteten an elektronischen Chips, an Hörsensoren, Geruchssensoren, visuellen Sensoren oder an Roboterarmen. Wir haben auch über Intelligenz und Gefühle diskutiert.

Über Intelligenz und Gefühle?

Wir sprachen darüber, ob die Struktur des Gehirns zentral ist für Intelligenz. Wenn man ernsthaft darüber nachdenkt, ist man rasch bei der Frage, ob eine funktionale Einheit von Nervenzellen, also zum Beispiel drei miteinander verbundene Neuronen, Intelligenz hervorbringt. Der anwesende Harvard-Neurowissenschaftler Florian Engert stiess diese Diskussion an. Er hatte bei Zebrafischen die Aktivität der Neuronen, die man mit fluoreszierenden Proteinen sichtbar machen kann, beobachtet. Er fragt sich, ob Zebrafische trotz primitivem Gehirn intelligent sind und Gefühle haben. Reichen ein paar Nervenzellen aus, um Gefühle empfinden zu können?

Wir wissen heute, dass Fische Schmerz empfinden können. 

Die Frage ist, wie wir «Schmerz» oder «Gefühl» definieren. Definieren wir Schmerz als blossen mechanischen Reflex auf ein Ereignis, oder verstehen wir unter Schmerz eine Feedbackschleife, die komplexere Antworten auf ein Ereignis ermöglicht? Wir sind der Meinung, dass die Fähigkeit, «Gefühle zu haben», eine solche Rückkopplung mit Informationsverarbeitung voraussetzt. Wie ist das nun bei Zebrafischen? Diese Fragen sind schwierig, weil wir viele Prozesse im Gehirn nicht verstehen. Ein Problem, das unser Institut beschäftigt, ist, ob die Struktur des neuronalen Netzwerks, also die Art und Weise wie die Neuronen miteinander verbunden sind, mit der Funktion und damit auch mit Intelligenz und Gefühl korrelieren, und falls ja, wie. 

Was genau erforschen Sie? 

Wir versuchen zu verstehen, was im Gehirn passiert, damit wir zum Beispiel sprechen können, damit wir die Stimme unserer Mutter erkennen können, damit Babys lernen können, ihren Körper zu kontrollieren. Wir erforschen diese natürlichen neuronalen Strukturen und Prozesse, um sie künstlich nachbilden und in den Computerwissenschaften einsetzen zu können. Wenn wir die neuronalen Prozesse verstehen, die zum Beispiel dazu führen, dass wir Menschen unsere Arme, Hände, Beine und Füsse bewegen und koordinieren können, dann könnten wir auch Roboter bauen, die sich so geschmeidig bewegen wie der Mensch oder das Tier. 

Die Technik dazu wäre vorhanden?

Ja. Aber wir verstehen diese komplexen biologischen Prozesse viel zu wenig. Deshalb fokussieren wir uns auf die Erforschung der neuronalen Strukturen. Uns interessiert die Morphologie der neuronalen Prozesse in der Grosshirnrinde. Die meisten haben bisher nur Grundeigenschaften einfacher neuronaler Netze erforscht, wir erforschen die Funktion von Nervenzellen und die Struktur neuronaler Schaltkreise. Form und Funktion hängen zusammen. Die Anatomie legt auch die Funktion fest. 

«Das Verständnis des Gehirns wird den Menschen helfen, bessere Computer zu bauen», schrieb der Economist im Jahre 2013. Die Mehrheit der Neuroinformatiker und Hirnforscher hat in den letzten Jahrzehnten das menschliche Gehirn als eine Art Computer betrachtet und seine Funktionsweise vom Computermodell mit seiner zentralen Datenverarbeitung her zu verstehen versucht. Das 1995 gegründete Institut für Neuroinformatik der ETH Zürich und der Universität Zürich geht den umgekehrten Weg: Es versucht die biologischen Strukturen und Funktionen des Gehirns zu verstehen, um daraus Erkenntnisse für die Informations- und Kommunikationstechnologie oder die Robotik zu gewinnen. Die Zürcher Forscher interessieren sich insbesondere für die Gestalt, die Morphologie der neuronalen Strukturen und Aktivitäten. Das Neuromorphic Engineering lässt sich von der Biologie inspirieren und ist ein noch junger Forschungszweig. Giacomo Indiveri und sein Team wollen Computer entwerfen, die drei Eigenschaften besitzen, welche bislang allein Gehirne auszeichnen: Niedriger Energieverbrauch (menschliche Gehirne verbrauchen nur rund 20 Watt, während heutige Supercomputer Dutzende von Megawattleistungen benötigen); Fehlertoleranz (Gehirne verlieren Nervenzellen oft ohne Folgen, verliert ein Mikroprozessor einen Transistor, fällt der ganze Prozessor aus); und Reaktionsvermögen (Gehirne lernen und verändern sich spontan, wenn sie mit der Welt interagieren, Computer folgen den festen programmierten Pfaden eines Algorithmus). «Unser Ziel ist es, die Eigenschaften von biologischen Neuronen auf Mikrochips nachzuahmen», erklärt Giacomo Indiveri. Sein Institut gehört in diesem Bereich weltweit zur Spitze. Es hat bereits neuromorphe Chips entwickelt, die rund 1000 komplexe, künstliche Neuronen und 100’000 Synapsen enthalten. In den USA wurden zwar schon Geräte mit einer Million einfacher künstlicher Neuronen gebaut, doch Indiveri geht es nicht darum, möglichst viele künstliche Neuronen herzustellen. «Das nützt nichts, wenn wir die neuronalen Prinzipien nicht verstehen. Deshalb fokussieren wir uns darauf, zuerst die Grundlagen von Form und Funktion der Neuronen zu verstehen.»

Ihr Institut ist weltberühmt für seine Forschung. Was machen Sie anders?  

Das Institut arbeitet interdisziplinär. Bei seiner Gründung im Jahr 1995 war es das erste in Zürich, das sowohl der ETH Zürich als auch der Universität Zürich angegliedert wurde. Bei uns arbeiten Physiker, Mathematiker, Neurowissenschaftler, Computerwissenschaftler, Bioingenieure, Elektroingenieure und viele andere Spezialisten. Alle müssen einen Kurs in Biologie machen, da wir ja die biologischen Grundlagen im Gehirn verstehen wollen. Diese Institutsstruktur verdanken wir den Gründern: ETH Zürich Physikprofessor Klaus Hepp, der sich für ein Institut für Neuroinformatik engagierte, als diesen jungen Wissenschaftszweig noch kaum jemand kannte; der Zürcher Regierung, die das Potenzial dieses Forschungsbereichs erkannte und den ersten Institutsleitern Kevan A. C. Martin und Rodney J. Douglas, die man 1995 der Universität Oxford abwarb.  

Wann kamen Sie an Bord? 

Ich kam rund ein Jahr nach Institutsgründung als Postdoc vom California Institute of Technology (Caltech) nach Zürich. Im «Caltech», wo der Begriff «Neuromorphic» Anfang der 1990er Jahre entstand, forschte damals die Avant Garde des Neuromorphic Engineering. Heute sind die besten Forscher auf diesem Gebiet in Zürich und in Europa. Mir gefiel der interdisziplinäre Zugang sofort, dieses Querdenken, die Experimentierfreudigkeit, die flachen Hierarchien. Die Stimmung ist bis heute familiär. Das schafft Raum für Kreativität. Das dürfte auch ein Grund sein, dass die Frauenquote an unserem Institut bei fast 50 Prozent liegt, was einmalig ist in diesem Bereich. Ich selbst möchte nie mehr weg von hier.

So unkonventionell das Institut vor 24 Jahren startete, so unkonventionell ist auch sein Erscheinungsbild. Die Büros der Forscher gleichen Wohnzimmern: Es gibt Sofas (die aussehen, als dienten sie den Forschern auch als Schlaflager), viele hohe, üppige Pflanzen, welche die Räume in kleine Oasen verwandeln, Ohrensessel und Hängematten. An den Wänden hängen Modelle von Neuronen, Skizzen oder Gemälde und von der Decke baumeln Fahrräder oder Windspiele. In den Gängen des Instituts hängen Bilder des Mitarbeiters John Anderson, der im Gehirn von Säugetieren visualisierte Nervenzellen akkurat von Hand auf Papier rekonstruiert. In einer Ecke steht eine schwarze weibliche Skulptur von H.R. Giger, deren Körper von einem feinen Nervennetz überzogen zu sein scheint. Man sieht dem Institut an, dass hier keine Menschen arbeiten, die nur ihren Job machen, sondern passionierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die nicht zwischen Privatem und Beruf unterscheiden.  

Als Sie nach Zürich kamen, sprach kaum jemand von Neuromorphologie. 

Ja, man hat uns die ersten Jahre belächelt. Aber das hat uns zusammengeschweisst. Das heutige Interesse der Industrie, der Politik und der Wissenschaft an unserer Forschung haben unsere Intuition bestätigt. Die Hirnforschung ist mit dem gewachsenen Interesse an Künstlicher Intelligenz trendy geworden. Wir haben schon vor 25 Jahren gespürt, dass wir etwas erforschen, das für die Technologien der Zukunft wichtig sein könnte. Das Gehirn funktioniert ganz anders als ein Computer. Diese Tatsache ist noch heute mein Antrieb: Ich möchte das Gehirn besser verstehen. 

Wie könnte ein besseres Verständnis des Gehirns konkret unsere Technologien verbessern?

Wir versuchen mit neuromorphen Prinzipien das aufzubauen, was wir «autonome kognitive Systeme» nennen. Ein solches eigenständig kognitiv agierendes System wäre zum Beispiel ein Cochlea-Implantat, also eine Hörprothese für Gehörlose. Das Implantat würde erkennen, ob sich die Person in einem Konzertsaal, in einem vollen Restaurant, in einem Auto oder im Wald befindet und seine Leistung entsprechend anpassen. Die Herausforderung für uns ist, dass solche Implantate den gleich geringen Energieverbrauch und die gleiche spontane Reaktionsmöglichkeit besitzen sollen wie ein Gehirn. In der Medizin gäbe es zahlreiche Möglichkeiten für solche Implantate. 

Sie beteiligen sich seit dem vierten EU-Rahmenprogramm an EU-Projekten, haben beim FET-Programm mitgemacht, bei ICT- und Marie-Curie-Projekten, erhielten drei ERC Grants und sind nun bei einem ECSEL-Projekt mit interessierten Anwendern dabei. 

Ich kenne die EU-Programme in- und auswendig. Als die EU im Jahr 2002 entschied, die Neurotechnologien zu fördern, war klar, dass wir uns immer wieder bewerben würden. Am Anfang waren die Projekte hilfreich, um überhaupt eine Forschergemeinde aufbauen zu können, die den biologischen Ansatz verfolgt. Wir konnten mit jedem Projekt weitere Experten zu uns ans Institut holen. Die EU-Projekte waren für uns aber vor allem wichtig, weil sie uns fundamentale Forschung finanzierten. Ohne die Unterstützung durch EU-Projekte würde unser Institut nicht zur Weltspitze gehören.

Waren sie auch wichtig für Ihre persönliche Karriere?

Ja, vor allem der ERC Starting Grant im Jahre 2011. Das war ein Schock für mich. Bislang gab man Projekte ein, erhielt den Zuschlag und begann mit der Forschung. Beim ERC gab es aber eine Medienmitteilung und ich wurde innerhalb der Universität Zürich und ETH Zürich zu Fakultätstreffen eingeladen. Ich wurde plötzlich bemerkt. Ich arbeitete bis dahin im Hintergrund. Grundsätzlich sind aber die Projekte auch karrierefördernd für die Doktoranden und Postdocs. Einige meiner ehemaligen Doktorandinnen sind heute an renommierten Technikinstituten. Darauf bin ich am meisten stolz. 

Werden Sie das Gehirn künstlich nachbauen können?

Das werde ich nicht erleben. Das Gehirn ist ein Wunder. Aber wir werden kleine Teile des Gehirns besser verstehen und dieses Wissen nutzen können. 

Maschinen werden immer intelligenter. Werden wir Menschen bald ihre Sklaven sein? 

Da sind wir wieder bei der Frage, was Intelligenz ausmacht. Intelligenz hängt meines Erachtens mit Kreativität zusammen und kreativ ist nur der Mensch. Ich habe nicht die Sorge, dass es in nächster Zukunft menschenähnliche Roboter geben wird, die uns zu beherrschen beginnen. Der Bau von künstlichen Menschen ist sehr schwierig, gerade weil wir den grössten Teil des Gehirns nicht verstehen. Ich sehe aber die Software in den Informations- und Kommunikationstechnologien als mögliche Gefahr. Die Künstliche Intelligenz mit ihren Algorithmen übernimmt immer mehr Entscheidungen für den Menschen; das stimmt mich ein bisschen besorgt.

Interview mit Giacomo Indiveri (englisch)
Giacomo Indiveri

Giacomo Indiveri ist Direktor des Instituts für Neuroinformatik der Universität Zürich und der ETH Zürich. Indiveri schloss sein Studium der Elektrotechnik an der Universität Genua ab und arbeitete von 1994 bis 1996 als Postdoc am California Institute of Technology, bevor er ans Institut für Neuroinformatik wechselte. Indiveri habilitierte sich im Jahre 2006 an der ETH Zürich über Neuromorphic Engineering. Sein Team untersucht natürliche neuronale Verarbeitungssysteme und baut Hardware mit neuromorphen kognitiven Systemen, die von äusseren Reizen, inneren Zuständen und Verhaltenszielen lernen und entsprechend spontan agieren können. Indiveri ist Mitbegründer zweier Spin-off-Firmen der Universität Zürich: Das neuromorphe Computerunternehmen aiCTX stellt neuromorphe Mixed-Signal-Prozessoren her, die einen niedrigen Stromverbrauch und eine niedrige Latenzleistung haben. Die iniForum GmbH wurde mit dem Zweck gegründet, innovative Veranstaltungen, Ausstellungen, Workshops und Konferenzen in den Bereichen Wissenschaft, Philosophie, Medizin, Computer, Ingenieurwesen und verwandten Themen zu konzipieren. Beide Start-ups haben ihren Sitz in Zürich.

weibliche Skulptur | H. R. Giger

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