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Mit einem Kaffee durchs Gehirn

Wie die Neuroinformatikerin Lydia Hellrung Menschen in den Kopf schaut und dabei erforscht, wie Neurofeedback unser Entscheidungsverhalten beeinflussen kann. Ein Augenschein im Labor der Neuroökonomen der Universität Zürich.  

Stellen Sie sich vor, jemand bietet Ihnen heute 200 Franken. Wenn sie bereit sind, bis morgen zu warten, erhalten Sie vierhundert. Klarer Fall, sagen Sie. Jeder vernünftige Mensch entscheidet sich für morgen. «Nicht immer», sagt Lydia Hellrung vom Zentrum für Neuroökonomie der Universität Zürich. «Menschen verhalten sich manchmal scheinbar irrational, weil noch andere Faktoren ihre Entscheidungen beeinflussen. Wenn ich heute sonst nichts zu essen habe, nehme ich die 200 Franken.» Wir treffen die Neuroinformatikerin an einem Freitagmorgen im Untergeschoss des Universitätsspitals Zürich, im Labor für Soziale und Neuronale Systeme (SNS Lab). Hier führt Lydia Hellrung ein Verhaltensexperiment mit rund hundert Versuchspersonen durch, das Aufschluss darüber geben soll, was in den Köpfen von Menschen geschieht, wenn sie Entscheide fällen. Das Experiment ist das Kernstück ihres Forschungsprojekts DOPANF, das von der EU mit 175’000 Euro finanziert wird. Mit Hilfe eines funktionellen Magnetresonanztomographen (fMRT)1 schaut Lydia Hellrung dem Gehirn ihrer Versuchspersonen beim Entscheiden zu. Die Beobachtung erfolgt in Echtzeit, der MRT liefert während des Experiments fortlaufend Bilder der aktiven Gehirnareale, die sich auf dem Bildschirm betrachten lassen. Zugleich werden die Hunderten von Aufnahmen für die spätere Auswertung gespeichert.

Dopamin belohnt 

Die junge Frau, die sich an diesem Morgen als Probandin zur Verfügung stellt, hat sich unter Anleitung von Lydia Hellrung bereits in die Röhre gelegt. Karl Treiber, der technische Leiter des Labors, setzt ihr den Kopfhörer auf und platziert die Magnetspule um ihren Kopf. Sie wird die Impulse aus dem Gehirn an den Scanner übermitteln. 

Wir nehmen Platz im Kontrollraum. Während Karl Treiber noch ein paar Funktionstests durchführt, erklärt uns Lydia Hellrung, was sie nun gleich im Kopf ihrer Probandin beobachten wird. «Menschen empfinden ein angenehmes Gefühl, wenn sie belohnt werden. Bei einer Belohnung wird im Hirn der Botenstoff Dopamin freigesetzt. Wir konzentrieren uns bei unseren Tests deshalb auf jene Hirnregionen, in denen Dopamin ausgeschüttet wird, das Mittelhirn, und interessieren uns für dessen Verbindungen zum Kortex. Mit unserem Magnetresonanztomographen können wir, wie mit dem Objektiv einer Kamera, diese Areale fokussieren und ihre Aktivitäten sichtbar machen. Sie bilden die Zentren des ‹Belohnungssystems› in unserem Kopf. Eine unterschiedlich starke Vernetzung dieser Regionen führt zu Änderungen in der Verarbeitung des dopaminergen Signals und damit auch zu einer Wechselwirkung mit dem Entscheidungsverhalten der Versuchsperson. Wieviel Wert ist ihr eine bestimmte Belohnung? Wieviel Aufwand ist sie bereit zu leisten, um diese Belohnung zu erhalten oder um eine Bestrafung zu vermeiden?» Dazu hat Lydia Hellrung zusammen mit ihrem Chef, dem Neuroökonomen Philippe Tobler, und einem Team von Psychologen, Medizinern, Biologen und Ökonomen des Zentrums für Neuroökonomie eine ebenso anspruchsvolle wie raffinierte Versuchsanlage entwickelt.

Aufwand und Ertrag

Als Erstes wurden die Probanden in zwei Gruppen geteilt. Beide Gruppen müssen sich anstrengen; die eine, um eine Belohnung zu erhalten, die andere, um eine Bestrafung zu vermeiden. Eine übergeordnete Geschichte bildet den Rahmen des Experiments. Die Probanden stellen sich vor, sie seien Kellner oder Kellnerinnen in einem Café. Jene der Belohnungsgruppe können sich ein grosses Trinkgeld verdienen, wenn sie sich um eine exzellente Bedienung der Gäste bemühen. Jene der Bestrafungsgruppe können durch erstklassigen Service verhindern, dass sie die Rechnung der Gäste bezahlen müssen. Alle Probanden wurden durch ein Training befähigt, die neuronale Aktivität im dopaminergen Mittelhirn bewusst zu regulieren. Dazu denken sie zum Beispiel intensiv an Situationen in ihrem Leben, in denen sie mit einer grossen Anstrengung eine Belohnung verdienten bzw. eine Sanktion verhinderten. Die Probandin im Scanner hat vor Kurzem Skifahren gelernt und denkt intensiv an ihre erste erfolgreiche Abfahrt. Mit dieser Methode aktivieren die Probanden jene Hirnareale, die Dopamin freisetzen. Dann lösen sich die Probanden wieder von dieser Erinnerung, beispielsweise, indem sie zählen. Auf diese Weise reduzieren sie die neuronale Aktivität im dopaminergen Mittelhirn wieder. Beim Test im MRT werden die Probanden nun abwechslungsweise aufgefordert, mittels Neurofeedback2 dopaminerge Hirnaktivität hoch oder runter zu regulieren. Wenn sie den einen beziehungsweise den anderen Zustand erreicht haben, erscheint auf dem Display die Frage, ob sie bereit sind, eine Aufgabe für einen bestimmten Geldbetrag zu lösen. Die Aufgabe steht stellvertretend für den Service, den die Probanden ihrem Gast im Café erbringen würden und verlangt, Buchstaben einer Reihenfolge zuzuordnen. Je höher der Schwierigkeitsgrad der Aufgabe, desto höher fällt die Belohnung aus. Die Probanden kennen die Aufgabe aus dem Vorbereitungstraining und müssen nun in der Röhre entscheiden, ob ihnen die angebotene Belohnung eine Anstrengung wert ist oder nicht. Was bei diesem Entscheidungsvorgang in den Dopamin-aktiven Hirnarealen geschieht, wie sich Netzwerke im Kopf zum «Belohnungssystem» verbinden, lässt sich auf dem Bildschirm eins zu eins beobachten.

Betrachten des Hirns beim Entscheiden

Karl Treiber hat die Funktionskontrollen inzwischen abgeschlossen. Der Bildschirm über dem Kopf der Probandin funktioniert, ebenso die Sprechverbindung über den Kopfhörer. Auch die kleine Kamera, welche die Augenbewegungen der jungen Frau aufzeichnet, läuft. Sie liefert zusätzliche Daten über den Erregungszustand der Versuchsperson, die in die Auswertung einfliessen. «Bist du bereit?», fragt Lydia Hellrung über den Kopfhörer. 

«Uns interessiert die Wechselwirkung
zwischen Dopamin im Gehirn
und dem Entscheidungsverhalten
der Versuchsperson.»

Karl Treiber startet den Scanner und auf den Bildschirmen im Kontrollraum und über dem Kopf der Probandin erscheint, passend zur Rahmengeschichte, eine Tasse Kaffee und ein Pfeil nach oben. Dies ist die Aufforderung an die Probandin, die neuronale Aktivität im dopaminergen Mittelhirn anzuregen. Die Messkurven, welche die Aktivität dieser Hirnregion auf den Bildschirmen anzeigen, steigen und erreichen nach wenigen Sekunden einen oberen Punkt. Jetzt zeigt der Pfeil auf dem Display nach unten und die Probandin moduliert sich wieder in den «Normalzustand», wie an den sinkenden Kurven zu erkennen ist. Sie wiederholt diese Hoch- und Runterregulation noch einige Male, dann startet Lydia Hellrung den eigentlichen Test. Im Moment, in dem die Messkurve eine hohe Aktivität der Dopamin-aktiven Hirngebiete zeigt, erscheint auf dem Display die Frage: Bist Du bereit, die Aufgabe mit Schwierigkeitsgrad 1 für zwei Franken zu lösen? Die Probandin klickt «Nein» in ihr Steuergerät und auf dem Bildschirm erscheint wieder die Tasse Kaffee und ein Pfeil nach unten. Die Probandin moduliert sich wieder in den «Normalzustand» und beginnt dann von neuem. Die Frage wird nun mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden und Belohnungsangeboten mehrmals wiederholt, direkt gesteuert von sehr hoher oder sehr niedriger Aktivität im dopaminergen Mittelhirn der Probandin. Mit diesem Test versucht Lydia Hellrung herauszufinden, ob die Probanden bei hoher Aktivität eher bereit sind, die höhere Anstrengung für dieselbe Belohnung aufzubringen bzw. ob den Probanden im «Normalzustand» eine höhere Belohnung angeboten werden muss, damit sie sich für die höhere Anstrengung entscheiden. Damit sie die Belohnung auch real erhalten, müssen die Probanden im Scanner ihren Entscheid auch umsetzen und die Aufgabe im gewählten Schwierigkeitsgrad für die gewählte Belohnung lösen. Die junge Frau, die an diesem Morgen am Versuch teilnimmt, entscheidet sich, die Aufgabe auf Schwierigkeitsstufe 3 für Fr. 3.90 anzugehen.

Ein Anruf aus Zürich

Später, bei einem realen Kaffee in der Küche des Labors, erzählt uns Lydia Hellrung, wie sie zu diesem Projekt kam. Sie hatte sich schon während des Studiums intensiv mit bildgebenden Verfahren beschäftigt. Nach ihrem Doktorat am Max-Planck-Institut in Leipzig, wo sie in einem Team von Psychologen, Medizinern und Biologen Software für Magnetresonanztomographie und Neurofeedback entwickelte, arbeitete sie als Postdoc an der Technischen Universität Dresden weiter an der Entwicklung und Anwendung dieser Methoden. Dort erreichte sie im Sommer 2016 der Anruf eines Kollegen, der sie fragte, ob sie nach Zürich kommen wolle. Philippe Tobler, der einen ausgezeichneten Ruf als Experte auf dem Gebiet des «Belohnungssystems» geniesst, hätte sie mit ihrer grossen technischen Expertise in fMRT gerne als Postdoc im Team. Lydia Hellrung zögerte nicht lange und sagte zu. In Zürich bot sich ihr die Chance, mit einer hervorragenden Infrastruktur und einem interdisziplinären Team das zu tun, was sie sich schon lange gewünscht hatte: Eine Verhaltensstudie zum «Belohnungssystem» mit der Methode des fMRT in Echtzeit durchzuführen. Sie trat die Postdoc-Stelle an und entwickelte gemeinsam mit Philippe Tobler das Forschungsprojekt DOPANF. Doch da war noch die Frage der Finanzierung. EU GrantsAccess empfahl Lydia Hellrung, sich bei der Europäischen Forschungskommission um ein «Marie Skłodowska-Curie Fellowship» zu bewerben und half ihr bei der Formulierung des Antrags. Sie erhielt das Stipendium und am 1. Juni 2018 konnte Lydia Hellrung DOPANF starten. Der «Marie Skłodowska-Curie»-Förderbeitrag bietet der jungen Neuroinformatikerin ein Sprungbrett in eine Forscherinnen-Karriere. Mit DOPANF kann sie sich in der Forschungsgemeinschaft profilieren. «Es ist wie erwachsen werden. Ich bin für ein Projekt erstmals selbst der Chef und muss liefern», meint sie lachend. 

Hoffnung für Suchtkranke 

Ende Mai 2020 endet die Laufzeit von DOPANF. Was wissen wir dann und worin liegt der Nutzen dieses Projekts, fragen wir am Ende unseres Kaffeegesprächs in der Laborküche. «Auf der Ebene der Grundlagenforschung werden wir erste Einblicke haben, wie sich die Netzwerke in unserem Hirn unterscheiden, je nachdem, ob sich jemand für eine Belohnung oder gegen eine Bestrafung anstrengt und welche Gruppe besser gelernt hat. Die Ergebnisse werden aber auch von praktischem Nutzen sein für das Verständnis und die Therapie von psychiatrischen Erkrankungen», erklärt Lydia Hellrung. «Wir wissen, dass Sucht-erkrankungen mit einer Störung des Dopamin-Systems einhergehen. Wenn wir verstehen, wie das ‚Belohnungssystem‘ im Hirn funktioniert, lässt sich die Aktivität der dopaminergen Hirnregionen über Neurofeedback-Training regulieren. Zudem hoffen wir, dass sich mit den Erkenntnissen aus dem Projekt auch eine alte Frage klären lässt: Haben Süchtige ein Problem, weil ihr Dopamin-System gestört ist und sie deshalb zur Droge oder zur Flasche greifen – oder entwickeln sie zuerst ein Suchtverhalten, das dann das dopaminerge System in ihrem Gehirn verändert? Die Antwort ist entscheidend für die Behandlung.» In einer nächsten Studie möchte Lydia Hellrung mit der Echtzeit-fMRT-Methode die Konnektivität, das Zusammenspiel von «Belohnungs- und Emotionssystemen» im Hirn trainieren. «Eine solche Studie würde völlig neue Möglichkeiten eröffnen, den Einfluss von Hirnfunktionen auf das Verhalten zu untersuchen», erklärt sie. «Mit einer eigenen Forschungsgruppe?», fragen wir. «Wäre mein Traum», sagt sie.

1 fMRT ist ein bildgebendes Verfahren mit den Methoden der Magnetresonanztomographie. Es kann funktionelle Abläufe im Gehirngewebe in Form von Schnittbilderserien darstellen.

2 Beim Neurofeedback werden Gehirnaktivitäten von einem Computer in Echtzeit analysiert und auf dem Bildschirm dargestellt. Die Probanden können auf diese Abbildungen reagieren und durch ein Training die Hirnaktivitäten beeinflussen.

Das Zentrum für Neuroökonomie (ZNE)

Das Zentrum für Neuroökonomie (ZNE) ist eine interdisziplinäre Forschungseinrichtung der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich (https://www.zne.uzh.ch/de.html). Herzstück des ZNE ist das Labor für Soziale und Neuronale Systeme (SNS Lab). In diesem interdisziplinär ausgerichteten Labor untersuchen Forschende die biologischen und neuronalen Mechanismen, die dem menschlichen Entscheidungsverhalten zu Grunde liegen. Dazu kombinieren sie neueste Bildgebungstechnologien mit nichtinvasiven Hirnstimulationen und Computermodellierungen. Das SNS Lab befindet sich in einem eigens dafür errichteten Teil des Magnetresonanztomographie-Zentrums des Universitätsspitals Zürich und verfügt über einen funktionellen Magnetresonanztomographen (fMRT) zu Forschungszwecken. Das Labor arbeitet mit weiteren Forschungseinrichtungen der Universität Zürich und der ETH Zürich wie der Translational Neuromodeling Unit (https://www.tnu.ethz.ch/de/home.html) und der Abteilung Bioimaging und MRI Technologie des Instituts für Biomedizinische Technik (https://www.mr.ethz.ch/index.html.de) zusammen. 

Interview mit Lydia Hellrung
Lydia Hellrung

Lydia Hellrung schloss ihr Studium der Computerwissenschaften mit Schwerpunkt Neuroinformatik an der Technischen Universität Ilmenau 2006 mit dem Diplom ab. Danach arbeitete sie als Software Engineer bei Carl Zeiss Meditec in Jena, wo sie Programme für bildgebende Verfahren entwickelte. Von der Industrie wechselte sie 2009 als Doktorandin in Computerwissenschaften ans Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und beschäftigte sich mit der Entwicklung von Softwarepaketen für funktionelle Magnetresonanztomographie in Echtzeit (Echtzeit-fMRT) und deren Anwendung in Verhaltensexperimenten zum Emotionssystem und Essverhalten. Nach ihrem Doktorat trat sie eine Stelle als Postdoktorandin an der Abteilung für Systemneurowissenschaften der Technischen Universität Dresden an. Dort führte sie von 2014 bis 2016 mit der fMRT-Methode Experimente zum Entscheidungsverhalten und zur Regulierung von Emotionen mittels Neurofeedback durch. Seit November 2016 arbeitet sie als Postdoktorandin am Zentrum für Neuroökonomie der Universität Zürich und seit 2018 leitet sie das Forschungsprojekt DOPANF.

MSCA Fellowship

DOPANF: Dopaminergic midbrain modulations by (adaptive) neurofeedback 

  • Projektart: Marie Skłodowska-Curie Actions, European Fellowship
  • Dauer: 24 Monate
  • Beitrag für die Universität Zürich: 175’419 €

https://cordis.europa.eu/project/id/794395

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