TOP

Asylverfahren neu designen

Wie wirken sich asylpolitische Massnahmen auf die spätere Integration von Geflüchteten aus und wie lassen sich Asylprozesse integrationsfördernd gestalten? Mit einem ERC-Projekt sucht Dominik Hangartner, Professor für Politikanalyse an der ETH Zürich, praktikable Antworten. Rolf Probala hat mit ihm gesprochen. 

Dominik Hangartner, was unterscheidet Ihr Projekt von den vielen Studien, die es zu Asylverfahren und Integration von Flüchtlingen bereits gibt?

Was unser Projekt auszeichnet ist der quantitative datenbasierte Ansatz. Wir stützen uns wenn immer möglich auf Registerdaten, die uns Informationen zu sämtlichen Asylverfahren in einem Land vermitteln; woher sind die Asylsuchenden gekommen, wer hat wann welchen Job gefunden usw. Diese Registerdaten und weitere Datenquellen sind das empirische Fundament unserer Analysen, die wir dann mit neuesten statistischen Methoden durchführen. 

Was muss man sich unter Registerdaten vorstellen?

In unserem Kontext sind Registerdaten oftmals Informationen, die als Prozessdaten im Lauf des Asylverfahrens bei Ministerien und Behörden eines Landes anfallen und dort festgehalten werden. Jetzt gibt es für uns so glückliche Fälle wie die Schweiz. Hier sammelt das Staatssekretariat für Migration die Informationen zu jedem einzelnen Geflüchteten im Lauf des Asylverfahrens systematisch. Diese Informationen lassen sich mit Daten der AHV-Ausgleichsstellen verknüpfen. Damit können wir den Lohn der Geflüchteten rekonstruieren. Wir haben also nicht nur Informationen über die persönlichen Charakteristiken der einzelnen Geflüchteten und die asylpolitischen Massnahmen, denen sie ausgesetzt sind. Wir haben auch Daten darüber, ob Geflüchtete Arbeit haben und wie hoch ihr Verdienst ist. Dazu kommen die Angaben der Einwohnerämter zu Wohnort und Umzug. Die Verknüpfung all dieser Daten muss in einer Art und Weise erfolgen, welche die Anonymität der Betroffenen gewährleistet. Wir verknüpfen diese Daten daher nicht selbst, das macht das Bundesamt für Statistik. Wir wissen also nie, ob die Person, deren Daten wir mit einer anonymisierten Nummer erhalten, Achmed X oder Hana Y ist. 

Die Schweiz ist von den fünf Ländern, in denen Sie für das ERC-Projekt forschen, der ideale Fall. Wie verhält es sich mit den anderen Ländern?

Etwas schwieriger ist die Situation in Frankreich. Dort liegen diese Daten nur in Papierform vor. Zumeist handelt es sich um ein Dossier, dem immer mal wieder ein Blatt mit neuen Daten hinzugefügt wird. Um diese Informationen für unsere Forschung verfügbar zu machen, hat sich eine Kollegin im Keller des zuständigen Ministeriums in Paris installiert und begonnen, die Daten zu digitalisieren. Zum Glück liess sich die französische Regierung überzeugen, dass es auch für sie von Nutzen ist, diese Daten aufzubereiten und für unsere Forschung anonymisiert zugänglich zu machen. 

Sie werten diese Daten mit neuen statistischen Methoden aus. Wie gehen Sie da vor?

Wir wollen ja nicht nur irgendwelche Korrelationen berechnen. Wir wollen sogenannt kontrafaktische Analysen durchführen, um quantitative Aussagen über den Effekt von asylpolitischen Massnahmen auf die spätere Integration zu machen. Dazu ein Beispiel: In den meisten Ländern dürfen Asylsuchende während einer bestimmten Frist nicht arbeiten. Wir versuchen nun zu berechnen, wie viel höher die Erwerbsquote eines Flüchtlings fünf Jahre nach seiner Ankunft wäre, wenn er bereits nach drei statt nach sechs Monaten hätte arbeiten dürfen. Zum Glück wurden in den letzten Jahren statistische und ökonometrische Methoden entwickelt, die solche Analysen mit Beobachtungsdaten ermöglichen. Wir müssen diese lediglich auf unsere spezifischen Problemstellungen adaptieren. Für die Entwicklung dieser neuen Methoden erhielten dieses Jahr drei Wirtschaftswissenschaftler den Nobelpreis für Ökonomie.

Zum Ergebnis Ihrer Analysen kommen Sie also mit diesen neuen statistischen Verfahren?

Genau. Mittels statistischen Verfahren für kausale Inferenz erhalten wir konkrete Aussagen wie: Sechs Monate warten bis zum Arbeitsmarktzugang hat auf die Integration eines Asylsuchenden diesen Effekt, drei Monate jenen. Diese kontrafaktische Policy Evaluation ist auch für die Politik ganz wichtig.

Klingt sehr nach angewandter Forschung.

Ist es auch. Aber ich hoffe, dass wir trotzdem einen guten Spagat schaffen zwischen angewandter und Grundlagenforschung. Der Soziologe Robert K. Merton hat vor 50 Jahren gesagt, dass die Soziologie – und ich denke, das gilt auch für die Politikwissenschaft und die Volkswirtschaftslehre – ihren Einstein noch nicht hatte, weil sie ihren Kepler noch nicht hatte. Er meinte damit, dass es zuerst ein empirisches Fundament braucht, um dann grosse Theorien darauf bauen zu können. Ich bin sicherlich kein Merton oder Kepler, aber ich glaube, dass wir mit den vielen Daten, die uns heute zur Verfügung stehen, sehr viel präziser arbeiten können und dadurch Inspirationen für die Theorieentwicklung gewinnen. 

Wie haben Sie Ihr Team organisiert?

Das Arbeiten mit den Daten erfordert natürlich Leute, die sehr gut sind in Statistik und Ökonometrie. Dafür sind vier Postdocs im unserem 15-köpfigen Projektteam zuständig. Das Besondere an unserem ERC-Projekt ist aber, dass wir parallel zur Forschung damit beginnen, die wissenschaftlichen Erkenntnisse in anwendbare Politikmassnahmen und Instrumente zu übersetzen. Wir evaluieren also nicht nur Bestehendes, wir entwerfen auch Neues. Dies geschieht in enger Zusammenarbeit mit den Ministerien und Behörden unserer fünf Partnerländer. Dazu haben wir im Team zwei erfahrene Projektmanagerinnen. Sie sprechen die Sprache von Verwaltungen und internationalen Organisationen, kommen zum Teil auch aus dieser Welt. Ihre wichtigste Aufgabe besteht darin, unsere Forschungsergebnisse in die Sprache unserer Partnerorganisationen zu übersetzen und umgekehrt. Sie haben eine Translationsfunktion im eigentlichen Sinn des Wortes, was für unsere Art von «translational social science» essentiell ist. 

Wo sehen Sie in Ihrem Projekt die grössten Herausforderungen?

Die grössten Schwierigkeiten ergeben sich für mich daraus, dass wir sehr detailliert verstehen müssen, wie die Daten zustande kommen, welche die spezifischen Asylprozesse in jedem Land generieren. Dies bedeutet, dass wir viel Zeit damit verbringen, mit Personen zu sprechen, die diese Asylverfahren durchführen, um herauszufinden, wie sie arbeiten. Nur so können wir nachvollziehen, wie die Daten generiert werden und welche blinden Flecken sie haben. Sie sind ja quasi «Nebenprodukte» administrativer Entscheide und wurden nicht für unsere Forschung erhoben. Die Welt, die wir durch diese Daten sehen, ist jene der Ministerien und Behörden. 

Wie gehen Sie da konkret vor?

Ich spreche am Telefon oder per Videokonferenz mit einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter der Asylbehörde ausführlich darüber, wie sie ihre Arbeit machen oder ich beobachte über Zoom Mitarbeitende bei einem Meeting, wie sie zu gewissen Prozessentscheiden kommen. Ich kann ihnen dabei quasi über die Schultern schauen. Das hat auch den Vorteil, dass wir, wenn wir die Prozesse verstehen, später Tools und Software so designen können, dass sie für Behörden und Beamte leicht in bestehende Arbeitsprozesse integrierbar sind. 

Das Projekt ist in der Halbzeit. Welche Aussagen lassen sich bereits jetzt schon machen?

Ein Aspekt unserer Forschung, den wir grösstenteils abgeschlossen haben, ist die Frage nach den Auswirkungen des Arbeitsmarktzugangs für Geflüchtete. Wir sehen, dass sich ein später Eintritt in die Arbeitswelt mittel- und langfristig ungünstig auf die Integration auswirkt. Der Faktor Zeit ist aber nur einer. Ein anderer ist die geografische Zuteilung. Sie erfolgt in den Aufnahmeländern meist nach dem Zufallsprinzip. Wir haben untersucht, wie sich diese Zuteilung datenbasiert mit Blick auf die Integration optimieren liesse. Dabei war das Ziel, basierend auf Daten, die im Asylprozess erhoben wurden, vorauszusagen, in welchem Kanton der Schweiz eine Flüchtlingsfamilie, die neu eingereist ist, am ehesten eine Arbeit findet. Bereits 2018 haben wir in «Science» ein Proof of Concept Paper publiziert, in dem wir auf der Basis von Registerdaten gezeigt haben, wie sich so etwas bewerkstelligen lässt. Zurzeit führen wir zusammen mit dem Staatssekretariat für Migration in der Schweiz eine grosse randomisierte Kontrollstudie mit 2000 Flüchtlingsfamilien durch, wovon 1000 wie bis anhin zufällig zugeteilt und 1000 unterstützt durch unsere datenbasierten Empfehlungen den Kantonen zugewiesen werden. 

Und was erhalten die Behörden dazu, ein Handbuch?

Die Beamten erhalten unter anderem von uns eine massgeschneiderte Software, welche ihnen basierend auf den individuellen Daten der Asylsuchenden berechnet, welcher Kanton für die Familie X in Bezug auf die Arbeitsmarktintegration am vielversprechendsten ist. Der finale Zuteilungsentscheid liegt dann aber bei der zuständigen Beamtin, nicht der Software.

Wenn das Projekt als Ganzes abgeschlossen ist, was liegt dann vor?

Ich hoffe, zum einen ein besseres Verständnis der wichtigsten Komponenten des Asylprozesses, und welche Konsequenzen diese in Bezug auf Integration haben. Zum anderen Vorschläge für viele dieser Komponenten, wie mit datenbasierten, statistischen Methoden die Integration jener Menschen, die später bleiben können, schon im Asylprozess gefördert werden kann.

Millionen sind unterwegs. Wie wird sich die Migration in den kommenden Jahren entwickeln?

Es ist eine Konstante unserer Geschichte, dass Menschen an Orte ziehen, wo sie bessere Chancen sehen. Migration war immer die wichtigste Armutsvermeidungsstrategie und so wie es aussieht, wird dies auch in Zukunft so bleiben. Daher brauchen wir dringend mehr Wissen darüber, wie Integration gelingen kann.

Interview mit Dominik Hangartner
Dominik Hangartner

Dominik Hangartner studierte von 2000 - 2006 Ökonomie und Soziologie an der Universität Bern. Nach Vordoktorandenstipendien an der Harvard University, der Washington University in Saint Louis und der University of California, Berkeley, promovierte er 2011 an der Universität Bern in Sozialwissenschaften. Im selben Jahr wechselte er als Assistenzprofessor an die London School of Economics, die ihn 2013 zum ausserordentlichen Professor beförderte. Im Jahr 2017 wurde er als ausserordentlicher Professor an die ETH Zürich berufen und Ende 2020 zum ordentlichen Professor für Politikanalyse ernannt. Der Schwerpunkt von Dominik Hangartners Forschung liegt auf Fragen der Migration. Er verwendet Feldforschung und Statistik, um die Auswirkungen von Migrationspolitik zu untersuchen und neue Politikinstrumente zu entwerfen.
Für seine Forschungsarbeiten erhielt Dominik Hangartner 2019 den Nationalen Latsis-Preis. Er zeichnet Wissenschaftler aus, die bis zum 40. Lebensjahr in der Schweiz besondere wissenschaftliche Leistungen erbracht haben.

Horizon 2020 Projekt

INTEGRATE: Identifying the Impact of Asylum Polices on Refugee Integration and Political Backlash in Host Communities

  • Projektart: ERC Starting Grant
  • Laufzeit: 1. November 2018 – 31. Oktober 2023 (60 Monate)
  • Beitrag für die ETH Zürich: 1’486’730 €
Das könnte Sie auch interessieren