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Auf dem Weg vom Labor zur Hautfabrik in die Klinik

Ernst Reichmann und Daniela Marino haben eine Ersatzhaut im Labor entwickelt, die Millionen von Menschen mit Verbrennungen oder anderen schweren Hautdefekten Hoffnung macht. Die neuartige personalisierte, geschmeidige und weiche Ersatzhaut könnte ihre Lebensqualität massiv erhöhen. 

Eine gemeinsame Vision hat sie zusammengebracht: Ernst Reichmann und Daniela Marino wollen Kindern (und Erwachsenen) mit grossflächigen und tiefen Hautdefekten ein möglichst schmerzfreieres und besseres Leben ermöglichen. Gemeinsam haben sie in den vergangenen zehn Jahren im Labor an einer menschlichen Haut getüftelt, die sich anfühlen soll wie die eigene. Nach einer vielversprechenden ersten klinischen Testphase bringt Daniela Marino diese Ersatzhaut mit einem eigens dafür gegründeten Start-up nun in die zweite Testphase, während Vollblutforscher Ernst Reichmann sein «Lebenswerk» noch weiter perfektionieren will. Mehrere EU-Projekte, die Universität Zürich, private Sponsoren und viel Geduld halfen ihnen auf dem Weg hierhin. 

Rund 50 Millionen Menschen weltweit leiden an schweren Hautproblemen, die zum Beispiel durch Tumore, angeborene Fehlbildungen, chronische Geschwüre oder durch schwere Verbrennungen verursacht werden. Grossflächige Verbrennungen sind lebensbedrohend. Weil die schützende Haut fehlt, können Mikroorganismen in den Körper eindringen, auch die Wärme- und Flüssigkeitsregulation funktionieren nicht mehr. Heute wird nach einer Verbrennung gesunde Haut vom Körper des Patienten entnommen, um damit den Defekt zu decken. Dafür nimmt man in der Regel aber nur die oberste Hautschicht, die sogenannte Spalthaut. 

«Niemand hat ernsthaft
an die Entwicklung einer
klinisch anwendbaren, personalisierten
Haut geglaubt.»
Ernst Reichmann

Sie besteht aus der Oberhaut (Epidermis) und einem dünnen Streifen der Lederhaut (Dermis). Die Transplantation dieser sogenannten dünnen Spalthaut, die ohne eine nennenswerte Lederhaut auskommen muss, hinterlässt oft sichtbare und bewegungseinschränkende Narben. Die transplantierte Haut sieht aus wie ein aufgesetzter Fremdkörper und bei Kindern wächst das Transplantat nicht mit dem wachsenden Körper mit: Dies alles sei gerade für Kinder ein «grosses Unglück», sagt Daniela Marino, selbst Mutter von zwei Kindern. «Obwohl wir über eine hochmoderne, hochtechnische Medizin verfügen, haben wir diese Probleme noch nicht gelöst.» Das wollen Reichmann und Marino ändern.

Daniela Marino ist eine energische Frau. Die im sizilianischen Agrigento aufgewachsene 37-Jährige spricht schnell und mit den Händen, sie ist ständig in Bewegung. Ihre zupackende Art kam ihrer beruflichen Karriere und ihrer Vision zugute. Daniela Marino, die bereits als Kind Forscherin werden wollte, kam nach ihrem Studium der Biotechnologie in Mailand und ihrer Promotion in den pharmazeutischen Wissenschaften an der ETH Zürich an die von Ernst Reichmann aufgebaute Forschungsabteilung für molekulare Gewebebiologie («Tissue Biology Research Unit») der Chirurgischen Klinik des Kinderspitals Zürich. Gemeinsam mit Reichmann und seinem Team sowie einem Ärzteteam am Kinderspital entwickelte sie eine neuartige Haut, um Kindern mit schwersten Verbrennungen ein besseres Leben zu ermöglichen. Die Herstellung dieser personalisierten Haut ist patentiert. Die Hautsubstitute tragen den Namen denovoSkin, was so viel bedeutet wie «neu entstandene Haut».

Vor 20 Jahren ganz unten angefangen

Schon seit fast 20 Jahren tüftelt Ernst Reichmann, der früher in der Krebsforschung arbeitete, an besseren Hautersatzprodukten. Er baute dafür ab dem Jahre 2001 die «Tissue Biology Research Unit» auf. Er und sein Team stellen im Labor personalisierte Haut her. Dafür entnimmt man dem Patienten Haut in der Grösse einer Briefmarke. Die verschiedenen Hautzelltypen werden dann in einer Nährlösung im Inkubator bei 37 Grad Celsius massiv vermehrt – bis aus dem Briefmarkenstück sieben auf sieben Zentimeter grosse und ein Millimeter dicke Transplantate geworden sind. «Diese Ersatzhaut kommt der natürlichen Haut schon sehr nahe», sagt Reichmann. Sie sei «weich und geschmeidig» und dadurch sehr anpassungsfähig und wachstumsfreudig, was schlimme Vernarbungen verhindere. Die erste klinische Testphase mit zehn Patienten am Kinderspital Zürich hat das Team im Jahre 2016 erfolgreich abgeschlossen. Die neuartige im Labor entwickelte Haut haben alle zehn Kinder laut Reichmann gut vertragen, keines hat die Haut abgestossen, sie löste bei diesen Kindern auch keine anderen negativen Folgen aus. «Die Haut gilt somit als klinisch sicher», bestätigt Reichmann. 

Er erinnert sich noch gut an den Anfang des «Tissue Engineering» oder «Skin Engineering», wie die Herstellung von Gewebe oder Haut im Labor genannt wird, vor fast 20 Jahren in Zürich. «Wir starteten als kleines Team. Niemand hat ernsthaft an die Entwicklung einer klinisch anwendbaren, personalisierten Haut geglaubt.» Reichmann musste schon zu diesem Zeitpunkt das Geld für seine Forschung selber auftreiben. «Die Teilnahme am EuroSTEC-Projekt im 6. EU-Rahmenprogramm mit 800‘000 Franken hat den entscheidenden Ausbau unserer Forschung erst ermöglicht. Ohne diese Gelder hätten wir wieder aufhören können.» 

Grosse Fortschritte dank Sechs-Millionen-EU-Projekt

Im Jahre 2009 stiess Daniela Marino als Postdoc dazu, zwei Jahre später zogen die beiden im 7. EU-Rahmenprogramm die Koordination des EuroSkinGraft-Projekts, mit dem sie sechs Millionen Franken generierten, an Land. Erst durch diesen grossen finanziellen Support kamen dann auch andere signifikante Beträge hinzu. 

«Wir mussten eine Firma gründen,
um zukünftig grosse Mengen
der Ersatzhaut unter Reinraumbedingungen
herstellen zu können.»
Daniela Marino

In diesem Projekt, das mit der klinischen Studie im Jahre 2016 abgeschlossen wurde, übernahm Daniela Marino immer mehr Koordinations- und Organisationsaufgaben. Sie war nun nicht mehr nur Forscherin, sondern auch Managerin und das gefiel ihr so gut, dass ihre Karriere eine ganz neue Wendung nahm: Aus der leidenschaftlichen Forscherin wurde eine leidenschaftliche Unternehmerin. 

Spin-off gegründet

Gemeinsam mit Reichmann und Martin Meuli, Direktor der Chirurgischen Klinik des Kinderspitals Zürich, gründete sie nach Ablauf des EU-Projekts im Jahre 2017 die CUTISS AG. Das lateinische Wort «cutis» bedeutet «Haut», die Endung «-tiss» mit Doppel-S ist eine Anlehnung an das englische «tissue», was auf Deutsch «Gewebe» bedeutet. Der Weg von der Grundlagenforschung bis zum marktfähigen Produkt sei lang und kostenintensiv, aber unvermeidlich, sagt Daniela Marino. «Wir mussten eine Firma gründen, um zukünftig grosse Mengen der Ersatzhaut unter Reinraumbedingungen herstellen zu können, und Investoren für unsere nächsten Schritte gewinnen.» Daniela Marino ist CEO dieses Start-ups. Wohl nicht zuletzt dank Marinos Feuer erregte CUTISS rasch grosse Aufmerksamkeit und gewann mehrere Innovationspreise. Zudem unterstützt das Wyss Translational Center Zurich (kurz: Wyss Zurich) das junge Unternehmen mit fünf Millionen Franken, um das «Tal des Todes», das aufgrund der hohen Kosten für weitere klinische Testphasen und den Aufbau des Unternehmens droht, zu überwinden.  

CUTISS wurde aus 1644 Bewerbern ausgewählt

Die CUTISS AG ist seit ihrer Gründung sehr erfolgreich. Die junge Firma wurde auch für die Phase 2 bei SME Instrument ausgewählt. In dieser Phase werden herausragende, hoffnungsvolle Start-up-Firmen mit bis zu 2,5 Millionen Euro pro Unternehmen gefördert. Das KMU-Instrument ist Teil des Pilotprojekts des Europäischen Innovationsrates (EIC), um Unternehmen bei Pilotversuchen oder beim sogenannten Scale-up, der automatisierten Produkteherstellung und Qualitätssicherung, zu unterstützen. Von den 1644 Bewerbern aus ganz Europa wurden nur 63 ausgewählt, drei davon in der Schweiz, darunter die CUTISS AG mit ihrem Hauttransplantat denovoSkin. Auf dem Weg zu einer Zulassung durchläuft das neuartige Hauttransplantat derzeit internationale klinische Studien der Phase II. Die im Labor hergestellte Haut muss an noch mehr Patientinnen und Patienten getestet werden. Dafür arbeitet CUTISS mit vier Spitälern aus dem In- und Ausland zusammen, denn die Forscher brauchen rund 40 Patienten, Erwachsene und Kinder. Zudem muss das Start-up beweisen, dass es eine grössere Anzahl von Hauttransplantaten in kurzer Zeit herstellen kann. «Wir müssen nun die Produktion automatisieren», sagt Daniela Marino. «CUTISS muss eine skin factory, eine Hautfabrik werden, um dereinst Spitäler mit diesem Hauttransplantat beliefern zu können», bringt es Ernst Reichmann auf den Punkt. Die nächsten zwei Jahre seien existenziell für CUTISS und die Zukunft von denovoSkin. 

«Es braucht Geduld»

Die Erwartungen an die personalisierte Ersatzhaut denovoSkin sind riesig. Zahlreiche Medien und Fachblätter haben das neue Verfahren bereits gefeiert und sprechen von einem enormen Potenzial für Menschen mit Verbrennungen oder Hauterkrankungen. Entsprechend gross ist der Druck auf das Start-up-Unternehmen. Dabei, sagt Ernst Reichmann, dessen schlicht eingerichtetes Büro im Bio-Technopark in Schlieren mit «Denkzelle» angeschrieben ist, brauche es viel Geduld und Sorgfalt, wenn man neue Arzneimittel entwickle. Der Amerikaner Steven W. Boyce habe schon vor zehn Jahren eine Ersatzhaut klinisch angewendet, was die amerikanische Zulassungsbehörde FDA dann aber wegen gravierend klinischem Fehlverhalten wieder stoppen musste. «Die Gefahr ist, dass man um des Profits willen Sorgfaltskriterien überspringt, sobald eine medizinische Entwicklung die Grundlagenforschung verlässt mit dem Ziel, ein Marktprodukt zu werden», sagt Reichmann. 

Daniela Marino kann mit diesem Druck umgehen. Hin und wieder, gibt sie zu, frage sie sich aber auch, ob denovoSkin die grossen Erwartungen erfüllen werde. «Was, wenn die klinischen Tests zeigen, dass die neue Haut doch nicht so gut ist wie erhofft?» Aber dann erinnere sie sich wieder daran, wie lange und sorgfältig Ernst Reichmann und sein Team schon an diesem Projekt arbeiten und wie erfolgreich sie alle in den letzten Jahren gewesen seien. 

Während Daniela Marino mit Leib und Seele eine Unternehmerin geworden ist, ist Reichmann froh, darf er Forscher bleiben. Das Profitdenken und der damit verbundene Druck, möglichst schnell ein Produkt auf den Markt zu bringen, ist seine Sache nicht. Er will «die perfekt funktionierende Haut» herstellen, weiter an ihr tüfteln. «Das ist mein Lebenswerk», sagt er. Er möchte im Labor eine Haut schaffen, die unserer natürlichen Vollhaut sehr nahe kommt, einem dickeren Stück Haut mit Nervenzellen, Pigmentierung, Blutgefässen, vielleicht sogar Haarfollikeln und Schweissdrüsen. Bei denovoSkin handelt es sich um eine Art Vollhaut, um Oberhaut und reichlich Bindegewebe, die aber noch keine Pigmentierung und keine Blutgefässe hat. Reichmann und Marino sind überzeugt, dass sie ein Segen für viele Verbrennungsopfer werden wird, weil sie sich sehr gut an den verletzten Körper anpassen könne. Bis zur Marktreife dürfte es allerdings noch rund zwei Jahre dauern. «Es braucht Geduld», seufzt Daniela Marino.

Interview mit Daniela Marino (englisch)
Ernst Reichmann und Daniela Marino

Prof. Dr. Ernst Reichmann ist ursprünglich Zellbiologe. Der heute 63-jährige Forscher hat 20 Jahre lang in der Krebsforschung an renommierten Instituten gearbeitet, bevor er 2001 am Kinderspital Zürich mit 45 Jahren einen Neustart wagte. Er baute die «Tissue Biology Research Unit» (TBRU) am Universitäts-Kinderspital in Zürich auf. Reichmann ist ein Vollblutforscher, dessen Ziel es ist, einen personalisierten Hautersatz im Labor herzustellen, welcher der eigenen, natürlichen Haut möglichst nahe kommt. In den letzten Jahren sei er aber immer mehr zum Wissenschaftsmanager geworden, erzählt er. Weil er seine Vision vorantreiben will, muss er Geld beschaffen, Gesuche für Projekte schreiben, Projekte organisieren, Kooperationen mit anderen Forschern und Instituten aufbauen. Die Biotechnologin Daniela Marino, die mit Reichmann und dem Kinderspital die neuartige Ersatzhaut denovoSkin entwickeln half und das Sechs-Millionen-Projekt EuroSkinGraft koordinierte, ist Mitbegründerin und CEO des Start-up-Unternehmens CUTISS AG mit heute 18 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. CUTISS wurde aus über 1600 Bewerbern für die Phase 2 des SME Instrument ausgewählt, ein Pilotprojekt des Europäischen Innovationsrates (EIC). Dieses Projekt will vielversprechende Start-up-Firmen mit bis zu 2,5 Millionen Euro unterstützen. Im Rahmen dieses SME-Projekts will nun CUTISS die zweite klinische Testphase für denovoSkin mit mehr Patienten durchführen und die Herstellung der Hautstücke automatisieren. Sowohl Ernst Reichmann, der sich weiterhin für die Grundlagenforschung engagiert, um «die perfekte Ersatzhaut» zu erschaffen, als auch Daniela Marino und ihr Team haben ihre Laborräume im Bio-Technopark in Schlieren bei Zürich.

SME Instrument

SME Instrument ist ein Finanzierungsinstrument der EU, mit dem sie hoch innovative KMUs (Small and Medium Enterprises) dabei unterstützt, neuartige Produkte zur Marktreife zu entwickeln. Sie verfolgt damit das Ziel, vielversprechenden Neuentwicklungen zum Markteintritt zu verhelfen und dadurch Wachstum und Arbeitsplätze zu schaffen. Das SME Instrument wird im Rahmen des Forschungsförderungsprogramms Horizon 2020 finanziert und verwaltet.

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